Stutzt man jenes Dickicht des Vergessens gelegentlich, welches im Laufe der Zeit alles einmal Gewesene allmählich überwuchert, kommt bekanntermaßen so manch ferne Geschichte oder einstmals weithin bekannte Person wieder zum Vorschein. Dies dürfte zweifellos auch bei Sidonia Hedwig Zäunemann zutreffen: Zu Lebzeiten landesweit gerühmt, ist die ungewöhnliche Erfurter Dichterin heute kaum noch bekannt. Höchste Zeit sie wieder ans Tageslicht zu holen.

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Sidonia Hedwig Zäunemann erblickte am 15. Januar 1711 im unmittelbar an der Krämerbrücke gelegenen »Haus zur güldenen Schaar« das Licht der Welt — und wurde damit in eine Zeit hineingeboren, in der die gesellschaftliche Rolle, die sie als Frau später einmal zu spielen hatte, im Grunde schon festgelegt war, bevor sie überhaupt auf eigenen Beinen stehen konnte. Dennoch wich sie, kaum den Kinderschuhen entwachsen, von eben jenem vorgegebenen Pfad der Konvention, wie ihn auch ihre beiden Schwestern beschritten, deutlich ab.

ZEITGENÖSSISCHER STICH mit dem Porträtbild Sidonia Hedwig Zäunemanns (1711 — 1740); Bild: Wikipedia

Denn statt sich auf all jene Aufgaben und Pflichten vorzubereiten, die eine züchtige Hausfrau und Mutter an der Seite ihres zukünftigen Ehemanns erwarten würden — die Betreuung von Heim, Hof, Kind und Kegel — ergab sich Sidonia lieber ihrem unstillbaren Wissensdurst: Egal, ob Geschichte, Philosophie, Mythologie oder Medizin — wie ein Schwamm saugte das Mädchen alles auf, was ihr unterkam. Bücher waren ihre Welt. Selbst Latein und Französisch brachte sie sich im Selbststudium bei. 15-jährig begann sie erste eigene Verse zu schmieden, wobei sie ihrem Vorbilde Christiana Mariana von Ziegler (1695 — 1760) nacheiferte, die in jener Epoche der Aufklärung zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen gehörte. Ihre Eltern — der Vater ein angesehener Erfurter Advokat und Notar, die Mutter die dazugehörige Hausfrau — dürften das unkonventionelle Verhalten ihrer Tochter zweifellos skeptisch beäugt haben, ließen sie jedoch gewähren — wohl auch in der Hoffnung und Annahme, dass sich dieser Spleen schon wieder verwachsen würde.

Gedichtete Lobpreisungen

Hierin sollten sie sich jedoch irren: Sidonias Hingabe zur Dichtkunst vertiefte sich und begann alsbald erste Früchte zu tragen. Für ihre Verse, die sie anlässlich von Hochzeiten, Taufen oder Begräbnissen anfertigte und im Bekanntenkreis präsentierte, erhielt sie so viel Lob und Ermunterung, dass sie schon bald daran ging, besonders gelungene Gedichte ganz selbstbewusst in den »Thüringischen Nachrichten von Gelehrten Sachen« zu veröffentlichen.

Erste stadtweite Bekanntheit war ihr schnell beschieden: Anlässlich des Einzugs des neuen kurmainzischen Statthalters von Erfurt im Jahre 1732 verfasste sie eine metaphernreiche Ode, in der sie nicht nur eben jenem Anselm Franz Ernst Freiherr von Warsberg, sondern ganz »Erfordien« zu der neuen Personalie gratulierte. Auch andere Adlige besang sie öffentlich in Versform: seine Kaiserliche Majestät Carl VI. etwa, den jüngst verstorbenen und allgemein als »Helden des Vaterlandes gefeierten« Prinz Eugen von Savoyen oder auch den sächsischen Herzog Ernst August und seinen Weimarer Hofstaat. Derartige gereimte Stanzen und gedichtete Lobpreisungen auf die Obrigkeit kamen gut an und sorgten dafür, dass innerhalb kurzer Zeit auch weit jenseits der Stadtgrenzen Erfurts von der jungen Poetin Notiz genommen wurde.

Landesweite Bekanntheit erlangte sie ebenfalls mit einem Gedicht über ihre Heimatstadt — dieses Mal hatte sie jedoch kein Lob zu verteilen. Anlässlich eines verheerenden Großbrandes, der Erfurt im Oktober 1736 heimsuchte, widmete sie der gebeutelten Stadt eine überaus empathische Trauerode. Heute würde man sagen, das Gedicht ging sofort viral: Nach seiner Erstveröffentlichung wurde Zäunemanns »Das am 21. und 22. Oktober 1736 unter Glut und Flammen ächzende Erfurt« innerhalb kurzer Zeit in vielen Tausend Exemplaren und mehreren Auflagen in ganz Deutschland verbreitet. Von nun an erschienen die Verse von »unserer munteren Dichterin«, wie die »Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen« den neuen ›Shootingstar‹ der deutschen Dichterszene nannten, regelmäßig in deutschen Zeitschriften.

Lyrischer Popstar

Den Gipfel nationalen Ruhms erklomm sie im darauf folgenden Jahr: 1737 wurde die Universität Göttingen von König Georg II. als ›Universität der Aufklärung‹ gegründet — und von Sidonia Hedwig Zäunemann kurz darauf vollmundig besungen. Die gereimte Lobpreisung sollte ihr die größte Ehrung ihres Lebens einbringen. Denn die gepriesene Universität erwies sich als überaus dankbar und schickte »der edlen und tugendhaften Jungfrau Sidonie Zäunemannin, der hochberühmten Poetin« Anfang 1738 einen Lorbeerkranz nebst Diplom nach Erfurt, mit welchem ihr »die wohlverdiente Würde einer Kaiserlich gekrönten Poetin« verliehen wurde.

ANSICHT DER VON ZÄUNEMANN ›besungenen‹ Göttinger Universität zu
ihrer Gründungszeit (Bild: Wikipedia)

Jene literarische Krönung zog einen ›Rummel‹ sondergleichen um Sidonia Zäunemann nach sich: Neben zahllosen Berichten in Zeitungen und gelehrten Journalen wurde die Erfurter Poetin selbst nun ebenfalls zum Objekt einer ganzen Reihe von Preisliedern und Lobgedichten — sogar Gedenkmünzen wurden ihr zu Ehren in mehreren Ausführungen geprägt. Aus Wittenberg, Weimar, Weißenfels, Arnstadt, Eisenach, Jena und vielen anderen Orten erreichten die Erfurterin in der Folge Schreiben, in denen man sie bat, die eigene Stadt doch bitte ebenfalls einmal auf ihre Weise zu besingen — ganz gleich, ob nun zu einem traurigen oder freudigen Anlass … Sidonia Zäunemann hatte es geschafft: Sie war ein lyrischer Popstar.

Frühe Feministin

Die allerorten Gepriesene selbst machte sich indes nicht wirklich viel aus all dem Aufheben, das man um sie veranstalte. Zum einen war sie sich durchaus bewusst, dass ihre bilderreichen Reimereien eher dichterischem Mittelmaß entsprachen und ihre Verse mitunter auch eher schleppend und breitspurig als leichtfüßig und behände daherkamen. Zum anderen maß sie eben jenen Gelegenheitsdichtungen, in denen sie Geburtstage, Hochzeiten, Personen oder Städte pries, zwar durchaus auch ihre Bedeutung bei — jedoch bei weitem nicht so viel Gewicht wie jenen Versen, in denen sie die patriarchalen Herrschaftsansprüche ihrer Zeit hinterfragte.

IN VIELEN IHRER DICHTUNGEN zog
die Poetin gegen den selbstverständliche
Herrschaftsanspruch der Männer zu Felde (Bild: Wikipedia)

Tatsächlich weisen viele ihrer Gedichte Sidonia Hedwig Zäunemann als eine engagierte Vorreiterin im Kampf um Frauenrechte aus. Nicht umsonst hatte sie sich während ihres jahrelangen Selbststudiums auch den Schriften verschiedener zeitgenössischer Freiheits- und Vernunftphilosophen zugewandt; nicht von ungefähr kam es nun, dass sie sich in ihrer Gedichtsammlung »Poetische Rosen in Knospen« unter anderem darüber zu ›wundern‹ begann, wieso Universitäten sich gern mit Lobgedichten von ihr schmücken wollten, ihr oder ›ihresgleichen‹ jedoch partout keinen Zugang zu den heiligen Hallen der Wissenschaft gewährten: »Ihr Männer bildet euch nicht ein / Als ob Vernunft, Verstand, Gelehrsamkeit und aufgeklärter Sinn / Sollt euer Eigenthum und Erbrecht seyn; / Nein! warlich, der das Firmament gesetzt, / Der hat das Frauen=Volk nichts minder hoch geschätzt: / Und ihnen auch Verstand und Witz verliehen.«

Noch stärker als gegen die universitäre Männerdomäne ging die »Zäunemannin«, wie sie häufig auch genannt wurde, in ihren Versen gegen die Institution ›Ehe‹ vor. So häufig sie auch das Glück der Liebe in ihren — häufig in Auftrag verfassten — Hochzeitsliedern in den höchsten Tönen gelobt hatte, erachtete sie jenen traditionell patriarchalischen Ehestand, in der die Frau der absoluten Willkür des Mannes ausgeliefert ist, als das Schlimmste, was ihr widerfahren könnte. »Der Ehstand ist ein schwarzes Meer, / Worein viel trübe Wasser fließen«, schreibt sie entsprechend bissig in ihrem Gedicht »Jungfern-Glück«: »Er ist ein herb- und bittrer Kohl. / Kann ihn ein beißend Salz versüßen?«

Unter Tage

Längst nicht nur in ihrem literarischen Schaffen präsentierte sich Sidonia Zäunemann als eine frühe Feministin. Zu einer Zeit, als unverheiratete Bürgertöchter kaum allein das Haus verlassen durften, ohne zur Zielscheibe von Lästereien zu werden, brach sie mit allen stehenden Konventionen ›damenhaften Verhaltens‹ und ritt regelmäßig allein und in Männerkleidung von Erfurt nach Ilmenau, um dort ihre Schwester zu besuchen. Mehr noch: Wahrscheinlich als erste Frau überhaupt wagte sie sich in die Tiefen des Ilmenauer Kupfer- und Silberbergwerks hinab — einfach, weil es sie interessierte. Stundenlang kroch und kletterte sie durch die Stollen, sprach mit Hauern und Steigern und machte sich Notizen. Daraus formte sie schließlich ein Gedicht, das über eine Länge von fast 470 Versen und unter Verwendung der bergmännischen Sprachgepflogenheiten auf ungeschönt-sozialkritische und kaum romantisierende Weise das harte Leben der Bergleute festhält. »Das Ilmenauische Bergwerk« dürfte in der deutschen Literatur bis heute einzigartig sein.

Einer ihrer wagemutigen Ritte von Erfurt nach Ilmenau, die der Freigeist zu allen Jahreszeiten und bei jedem Wetter unternahm, sollte ihr allerdings dann doch zum Verhängnis werden: Beim Überqueren der zu diesem Zeitpunkt Hochwasser führenden Wilden Gera stürzte sie am 11. Dezember 1740 bei Angelroda aus unerfindlichen Gründen in den Fluss und ward von den Fluten mitgerissen. Ihren Leichnam fand man nahe Plaue, wo sie fünf Tage später unter feierlichem Geleit zu Grabe getragen wurde. Auf dem örtlichen Friedhof wird das Andenken an sie heute mit einem kleinen Gedenkstein geehrt.