Teil 2: Immer größer, immer länger

Getrieben vom Wunsch nach Selbstverwirklichung treibt es den gebürtigen Mühlhäuser Johann August Röbling anno 1831 in die Neue Welt. Nach einem eher holperigen Anfang findet er schließlich seinen Platz: als Drahtseilpionier und Großbrücken-Konstrukteur. Eine Thüringer Auswanderergeschichte.

Ein Bauwerk für die Ewigkeit: die Brooklyn Bridge, vom Mühlhäuser J. A. Röbling als Hänge- und Schrägseilbrücke entworfen, überspannt auf einer Gesamtlänge von 1.834 Metern den East River zwischen Brooklyn und Manhattan (Wikipedia)

Als sie im Jahre 1883 eröffnet wurde, erklärte sie manch einer, beeindruckt von der wuchtig-kolossalen Erscheinung, glattweg zum achten Weltwunder: Millionenfach überschritten und befahren und wahrscheinlich nicht weniger fotografiert, gefilmt oder gemalt darf sich die Brooklyn Bridge neben der Freiheitsstatue, dem Empire State Building und dem Central Park ohne Zweifel zu den bekanntesten baulichen Wahrzeichen New Yorks zählen. Auf einer Länge von annähernd 500 Metern überspannt sie seit mehr als 135 Jahren den East River, um die Halbinsel Manhattan auf dem Wasserwege mit Brooklyn zu verbinden. Ihre charakteristische Form verdankt sie dabei vor allem den beiden hoch aufragenden, massiven Steintürmen und den daran befestigten, meterdicken Schrägseilen, die der Brücke Halt und Stabilität verleihen. Wer es auf sich nimmt, die Brücke als einer von geschätzten 4.000 Fußgängern pro Tag auf der eine Ebene über den Fahrspuren gelegenen Promenade zu überqueren, der begegnet — von Brooklyn kommend — am ersten der hoch aufragenden Granitportale, dessen neugotische Formgebung übrigens nicht von ungefähr eine augenfällige Ähnlichkeit mit der altehrwürdigen Blasii-Kirche in Mühlhausen aufweist, mehreren Gedenkplatten, von denen eine unter anderem auch den Konstrukteur des imposanten Bauwerks würdigt: Johann August Roebling.

Ernüchterung und Neuanfang 

Wäre es nach Johann August Roebling gegangen, hätte dieser seine erste Hängebrücke schon in der alten Heimat errichtet. Denn die Leidenschaft für den Brückenbau hatte den gebürtigen Mühlhäuser schon einige Jahre vor seiner Auswanderung gepackt. Während seiner Zeit als angehender Bauingenieur im westfälischen Arnsberg hatte er den zuständigen Ministerialstellen gleich mehrfach akribisch ausgearbeitete Entwürfe für benötigte Brückenbauten zukommen lassen — und mit keinem einzigen Entwurf Gehör oder Interesse gefunden. Allein in seinen Brückenentwurf für eine »eiserne Kettenbrücke über die Lenne bei Finnentrop« hatte er 1928 vier Wochen Arbeit gesteckt, jedes Detail berechnet, alles von A bis Z durchkalkuliert — und dürfte entsprechend verdrossen über die ablehnende Haltung der Regierungsstelle gewesen sein. 

Vielleicht war er mit seinen Hängebrücken-Entwürfen einfach nur ein Stück zu sehr seiner Zeit voraus — angesichts ihres scheinbaren ›Schwebezustands‹ misstraute man allgemein deren Stabilität und gab nach wie vor steinernen Brücken, die auf festen Pfeilern ruhten, den Vorzug — vielleicht wollten sich die preußischen Behörden aber auch in Sachen Brückenbau schlichtweg nichts von einem gerade mal Zwanzigjährigen, der noch nicht einmal den Abschluss zum Bauingenieur in der Tasche hatte, vormachen lassen. Ihren Teil zur Entscheidung, nach Amerika auszuwandern, dürfte diese ablehnende Haltung gegenüber seinen neuartigen Brückenkonzepten auf jeden Fall beigetragen haben. 

Aufstieg zum Brückenbau-Experten

Bei allem Verdruss erweist es sich doch als Glück, dass der Auswanderer nicht nur seine Bücher und Studienunterlagen von der Berliner Bauakademie in die USA mitgenommen, sondern sich auch etwas von seiner Begeisterung für die Konstruktion von Brücken bewahrt hat. Über den Umweg des innovativen Drahtziehers, zu dem er sich ab Anfang der 1840er Jahre mit stetig wachsendem wirtschaftlichen Erfolg wandelt, findet er zu seiner alten Leidenschaft zurück. Als 1843 während der Schneeschmelze ein Brückenaquädukt, das den Pennsylvania-Kanal auf Höhe von Pittsburg über den dort fließenden Allegheny führt, so stark beschädigt wird, dass ein kompletter Brücken-Neubau notwendig wird, beschließt Johann August Roebling, sein Glück zu versuchen und einen eigenen Entwurf einzureichen. Dabei hofft er, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können: zum einen die Stabilität seiner innovativen Paralleldrahtseilführung unter Beweis stellen und zum anderen sich endlich auch jenen lang gehegten Berufstraum vom Brückenbauer zu verwirklichen. Anders als seine Mitbewerber schlägt er den Auftraggebern vor, die zukünftige Kanalbrücke nicht wie zuvor wieder im Wasser aufzuständern, sondern stattdessen an Drahtseilen aufzuhängen — und setzt sich auf Anhieb gegen sämtliche anderen Entwürfe durch. Allerdings nicht etwa, weil die Auftraggeber sofort den neuartigen Ansatz seiner Brückenkonstruktion erfassen, sondern weil sein Angebot schlichtweg jenes ist, das mit den niedrigsten Kosten einhergeht.

Erste Rekordbrücke

Röblings erste Rekordbrücke, zweistöckig und einen Viertelkilometer lang — geradezu kurz im Verhältnis zu jenem Bau, für den der Brückenenthusiast ebenfalls einen Entwurf in der Schublade hatte: eine Brücke über den Ärmelkanal (Wikipedia)

Mit etwas Verzögerung finden Einsicht und Erkenntnis dann aber doch noch ihren Platz: Im Angesicht des fertigen Brückenaquädukts realisiert man, dass das vom deutschen Einwanderer errichtete Bauwerk auf seine Art und Weise ein kleines Meisterwerk der Ingenieurskunst ist und die dort zum Einsatz gebrachte Parallelseilkonstruktion für den Brückenbau an sich einen enormen Entwicklungsschub bedeutet. Hängebrücken waren zwar auch schon vor Roeblings Ankunft in Vereinigten Staaten hier und da gebaut wurden, doch erst mit der durch ihn eingeführten Technik der Parallel- und Schrägverseilung erlangten sie das Potenzial, sich als vollwertige Alternative zu den bewährten Stein- und Holzbrücken etablieren zu können.

Der Erfolg seines Pittsburgher Brückenaquädukts beschert Roebling binnen kurzem eine ganze Handvoll weiterer Aufträge. Bis 1850 errichtet er insgesamt fünf Brücken über verschiedene Flüsse und Kanäle sowie eine Straßenbrücke in seiner neuen Wahlheimat — längst steht sein Name in der Region nicht mehr nur synonym für Drahtseilproduktion im großen Maßstab, sondern auch für umfassendes Know-how und Expertentum im Brückenbau.

Dieses Renommee bringt ihm Anfang der 1850er Jahre ein erstes großes Prestigeprojekt — und in der Folge landesweite Bekanntheit ein: Roebling erhält den Auftrag, eine Eisenbahnbrücke über die Niagara-Schlucht unweit der berühmten Wasserfälle zu bauen. Der stark vorangetriebene Ausbau des Eisenbahnnetzes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte unter anderem dazu geführt, dass die Zahl der Besucher, die dem auf der Grenze zwischen den USA und Kanada gelegenen Naturwunder entgegen strebten, enorm angewachsen war — obwohl vor Ort selbst noch gar keine Bahnlinie vorhanden war. Auf beiden Seiten der Grenze erkannte man jedoch das wirtschaftliche Potenzial, welches sich hier offenbarte und forcierte entsprechend den Ausbau. Das Highlight, so die Vision, sollte eine die 60 Meter tiefe die Niagara-Schlucht auf einer Länge von 250 Metern überspannende Eisenbahn-Hängebrücke werden. 

Zunächst fällt die Wahl auf Charles Ellet jr., einen Brückeningenieur französischer Herkunft, den ambitionierten Plan in die Tat umzusetzen. Als dieser sich jedoch mit den Auftraggebern zerstreitet, erhält Roebling seine Chance, die weltweit erste Eisenbahn-Hängebrücke zu vollenden. Und was er in vierjähriger Bauzeit errichten lässt, kann sich wahrhaftig sehen lassen: Im März 1855 wird die an vier isoliert stehenden, schlanken Pfeilern mit vor Ort ›gesponnenen‹ massiven Drahtkabeln aufgehängte und einen Viertelkilometer lange Doppelstockbrücke für den Verkehr freigegeben. Auf dem Oberdeck quert die Eisenbahn die Niagara-Schlucht, eine Etage darunter können Fuhrwerke, Kutschen und Fußgänger gegen ein Entgelt die Hängebrücke passieren. Trotz extremer Witterungsbedingungen und von Jahr zu Jahr ansteigenden Verkehrslasten überdauert Roeblings Niagara-Rekordhängebrücke mehr als 40 Jahre vor Ort, bevor sie, etwas baufällig geworden, kurz vor der Jahrhundertwende abgerissen und durch eine neue Ersatzbrücke ersetzt wird. 

Begeisterung kennt keine Grenzen

Für den begeisterten und nunmehr auch weit über die Landesgrenzen hinaus begeistert gefeierten Brückenbauer aus Mühlhausen kann die nächste Herausforderung indes nicht groß genug sein und schon gar nicht bald genug kommen: Noch längere Hängebrücken mit noch mehr Spannweite will er bauen. Ende der 1850er Jahre bietet sich ihm hierfür eine erste Gelegenheit. Über den ihm mittlerweile vertrauten Allegheny in Pittsburgh baut er eine zweiteilige Hängebrücke mit einer Gesamtspannweite von 310 Meter. Zehn Jahre später hat er auch diesen Rekord bereits wieder ein Stück ausgebaut: Seine 322 Meter lange Cincinnati-Brücke über den Ohio, die übrigens heute noch steht, wird 1866 als längste Hängebrücke der Welt bejubelt. 

Zu diesem Zeitpunkt hat Johann August Roebling sich jedoch längst an einem neuen Brückenprojekt festgebissen, welches das Potenzial hat, sämtliche seiner bisherigen Brückenwunder noch einmal bei weitem zu übertreffen. Was ihm vorschwebt, ist eine Hängebrücke in nie dagewesener Dimensionierung zu errichten: über den Meeresarm des East River hinweg, um New York mit Brooklyn, das damals noch eine eigenständige Stadt ist, zu verbinden. Schon 1857 hatte er diese Vision publik gemacht und dem Bürgermeister von New York unterbreitet, war jedoch nur auf skeptische Zurückhaltung gestoßen: Man befürchtete, eine Hängebrücke von solcher Länge — fast 500 Meter! — würde der starken Strömung und dem steten Wind, der über dem East River blies, auf Dauer kaum standhalten können. Zudem sei ein derartiger Bau viel zu teuer, würde sich nie und nimmer rentieren, sei überdies geschäftsschädigend für den Fährbetrieb, behindere die Schifffahrt und überhaupt: Niemand sei bereit, einen halben Kilometer Brücke abzulaufen.

Familienprojekt Brooklyn Bridge

Aber anders als während seiner Lehrjahre unter preußischen Beamten können derlei Hindernisse den ehrgeizigen Brückeningenieur nicht mehr von seinem Vorhaben abbringen. Unbeirrt und beharrlich zerstreut er alle Bedenken, überzeugt die mittlerweile gegründete Brückengesellschaft von der Funktionstüchtigkeit seiner detailliert ausgearbeiteten Pläne. Endgültige Zustimmung für seine »Great East River Suspension Bridge« erhält er jedoch erst 1867, nachdem zum wiederholten Male der sonst eher eisfreie East River winters über komplett zugefroren ist, so dass sämtliche Pendler zu einen gefährlichen Lauf übers Eis gezwungen sind.

Eine besonders große Herausforderung bei den Vorbereitungsarbeiten stellen die Fundamente für die beiden mächtigen Brückenpfeiler dar, die mit Senkkästen tief im Flussbett verankert werden müssen. Roebling hat hierfür eigens seinen ältesten Sohn Washington (1837—1926), der beruflich längst in dessen Fußstapfen getreten war, auf Europareise geschickt, um sich mit der dort schon länger angewandten Technik vertraut zu machen. Zum Glück — denn ein tragisches Unglück sorgt dafür, dass der Schöpfer der Brooklyn Bridge deren Errichtung selbst nicht mehr miterleben sollte: Bei Besichtigungsarbeiten vor Ort bemerkt Roebling eine einlaufende Fähre zu spät, sein Fuß wird am Anleger zerquetscht. Keine Verletzung, die zwangsläufig einen baldigen Tod nach sich zieht. Bei Johann August Roebling schon. Als unbeirrbarer Anhänger der Homöopathie lässt er trotz Bitten und Drängen seiner Familie nichts anderes als kaltes, klares Wasser an seine Wunde — und stirbt vier Wochen nach dem Unfall am 22. Juli 1869 an Wundstarrkrampf. 

Völlig unvermittelt ist es nun am 32-jährige Washington Roebling, das Erbe seines Vaters anzutreten und den Posten des Chefingenieurs für das insgesamt 16 Jahre währende Mammutprojekt zu übernehmen. Gut, dass er eine entsprechende Ausbildung vorweisen kann und bereits an mehreren Großbrückenbauten seines Vaters beteiligt war. Schlecht, dass auch für ihn der Bau jener Brücke unter keinem guten Stern steht. Infolge der häufigen Aufenthalte in den mit Druckluft gefüllten Senkkästen an den Fundamentfüßen der beiden Brückentürme zieht er sich, wie einige andere Arbeiter auch, aufgrund schlichten Unwissens eine Dekompressionskrankheit zu, die ihn in ein körperliches Wrack verwandelt, schlussendlich sogar an den Rollstuhl fesselt.

Dass die Brücke letztlich doch fertiggestellt wird, ist maßgeblich Washington Roeblings Frau Emily (1843—1903) zu verdanken, die ohne technische Vorbildung weit über die ihr ›traditionell‹ zugewiesene Rolle der Hausfrau und Mutter hinauswächst. Da ihr Mann die Fortschritte der Brückenarbeiten bald nur noch vom heimischen Fenster aus mit dem Fernglas beobachten kann, wird sie vor Ort mehr und mehr zu dessen Auge, Ohr und Mund, übernimmt als inoffizielle Chefingenieurin schließlich alle Aufgaben von der Inspektion bis zum Vertragsabschluss und ist zu guter Letzt die Erste überhaupt, die die Brücke am Tag der Eröffnung überquert. Wer diese heute passiert, findet in der Folge nicht nur Johann August Roebling sowie dessen Sohn Washington A. Roebling als deren Konstrukteure auf einer Gedenktafel am Fuße des ersten Brückenturms genannt, sondern an oberster Stelle Emily Warren Roebling. Schließlich gilt, wie auch sinngemäß darunter geschrieben steht, dass »jedem großen Werk die aufopfernde Hingabe einer Frau zugrunde liegt«.