Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Ted Lewis: »Schwere Körperverletzung« &
Tom Franklin: »Wilderer«

Ausnahme-Literatur wider den Zeitgeist

Krimi ist nicht gleich Krimi. Für alle, denen Mordgeschichten, wie sie von Patricia Highsmith, David Baldacci oder Agatha Christie in Serie und Fülle geschrieben wurden bzw. werden, in ihrer Art nicht ruppig, nicht roh genug sind, dürfte der Pulp Master Verlag der Anlaufpunkt schlechthin sein. Seit mittlerweile über 30 Jahren versorgt dessen Chef Frank Nowatzki seine Leserschaft mit Ausnahme-Kriminalliteratur jenseits des Mainstreams und bietet insbesondere Anhänger:innen der Noir-Literatur eine Heimstatt. »Pulp geht dahin, wo man die Menschen noch ein wenig schockieren kann«, sagt Nowatzki selbst über das Nischen-Literaturgenre, dem er sich mit Leib und (Verleger)Seele verschrieben hat.

Entlang der von Pulp Master bislang veröffentlichten 54 Titel ist mittlerweile eine Noir-Reihe entstanden, die von Gary Disher über Rick DeMarinis bis Dave Zeltserman nahezu sämtliche Großmeister dieses speziellen Literarturgenres versammelt, die darüber hinaus aber natürlich auch verschiedenen Neu- oder Wiederentdeckungen eine Bühne bereitet. Eine ‘familiäre‘ Zusammengehörigkeit lassen bei all diesen Autoren bereits die häufig recht markant-einschlägigen Titel erkennen – beispielhaft erwähnt seien hier Jim Nisbets „Welt ohne Skrupel“, „Killer“ von Dave Zeltserman, Gary Dishers „Dreck“ oder auch sehr galant: „Piss in den Wind“ von Buddy Giovinazzo. Darüber hinaus ist es jedoch vor allem diese unverwechselbare Handschrift und Erzählweise, die diese Geschichten und Romane vereint. Distinguiertheit und normkonforme Zurückhaltung im Auftreten der Figuren sucht man hier ebenso vergebens wie Versprechen einer heilen Welt oder schöngeistige Sprachanwandlungen. Nein, die Erzählsprache von Zseltserman, Nisbet, Disher und Co. ist genauso direkt, roh und ruppig unverstellt wie die Figuren, die damit zum Vorschein gebracht werden. Fern davon, niveaulos zu sein. Sie ist darauf aus, wilde emotionale Landschaftschaften, Machtphantasien, Schmutz, Abgründiges und Randständiges ungeschönt zum Ausdruck zu bringen und einen möglichst authentischen Ton für das Milieu zu finden, in dem sie ihre Geschichten aus der Unterwelt, der Gosse oder dem gesellschaftlichen Hinterland spielen lassen. Gern auch systemkritisch, oftmals auch schwarzhumorig, nie billig – und nahezu immer grandios dafür geeignet, als echter Reißer in einem Stück verschlungen zu werden.

Dass eine solch ruppige Art der Krimierzählung bei Kritik und Leserschaft ankommen, zeigt sich in den nahezu ausnahmslos lobpreisenden Feuilleton-Artikel und Bewertungen, mit denen Frank Nowatzkis handverlesene Publikationen bedacht werden; zuletzt aber auch im Deutschen Verlagspreis, den dieser im vergangenen Jahr für sein verlegerisches Schaffen verliehen bekommen hat.

Unbedingt empfohlen werden können vor diesem Hintergrund auch die beiden jüngsten Veröffentlichungen der Pulp Master-Reihe: „Schwere Körperverletzung“ von Ted Lewis und „Wilderer“ von Tom Franklin.

Gefangen in der Erinnerung

Ted Lewis: „Schwere Körperverletzung“
Pulp Master, 352 Seiten (PB)

„Schwere Körperverletzung“ ist Genre-Klassiker und Wiederentdeckung in einem und bereitet einem Autor eine Bühne, der mit „Get Carter“ und den zugehörigen Folgeromanen bereits vor Erscheinen dieses 1980 erschienen letzten Romans maßgeblich am erblühenden Ruhm des britischen ‘Roman noir‘ mitgewirkt hatte – die Erhebung beider Werke in den Kultstatus indes selbst nicht mehr erlebte: Ted Lewis ging 1982, gerade einmal vierzig Jahre alt, mit jeder Menge ungeborgenem schriftstellerischen Talent ausgestattet, unglücklicherweise jedoch zu sehr in der Rolle des einsamen Trinkers gefangen, infolge der schweren Körperverletzung, welche die dauerhafte Zuwendung zum Alkohol ihm zugefügt hatte, zugrunde. „Schwere Körperverletzung“ ist indes wie auch sämtliche Vorgängerromane Ted Lewis‘ keine Autofiktion, höchstens geprägt von dem Milieu, in dem der Autor sich bewegte. George Fowler, die Hauptfigur des Romans, ist definitiv kein Mensch, den man mögen will oder sollte: Als Chef eines auf Pornografie spezialisierten Unterweltimperiums setzt dieser alles daran, seine Gewinne hoch und die Maschinerie (Pornografie ist im Großbritannien der 1970er illegal) am Laufen zu halten. Hierfür ist ihm jedes Mittel recht – sei es Bestechung bei den Behörden oder heftige Gewaltmaßnahmen gegen alle, die ihn zu hintergehen oder aus dem Geschäft zu drängen versuchen. Verlässlich kann er dabei auf seine Frau zählen, die nicht etwa die unwissende Gattin oder treuherzige Kindesmutter mimt, sondern ganz vorn mit von der Partie ist, wenn es darum geht, das ‘Familiengeschäft‘ mit brutalen Säuberungsaktionen gegen alle Gefahren von außen zu verteidigen. Nur irgendwann gehen die Dinge doch zu weit, läuft alles völlig aus dem Ruder und verliert seine gewohnte Unterweltordnung. George Fowler setzt sich ab, flüchtet in ein Geheimversteck, das er sich etwas abseits von Mablethorpe, einem langweiligen Kaff an der englischen Ostküste hat errichten lassen, für den Fall, dass er mal abtauchen muss. Also für genau die jetzt eingetretene Situation. Kühlen Kopfes beschließt er hier erst einmal abzuwarten und dem Gras beim Wachsen zuzusehen. All das Geschehene und unerwartet Eingetretene bei einem Scotch auf Eis, eigentlich viel Scotch auf Eis, noch einmal Revue passieren lassen, um für sich sortiert zu bekommen, was genau eigentlich vorgefallen ist. Doch je länger er sich an den grausamen Einzelheiten seiner Vergangenheit abarbeitet, desto stärker verfällt er dem paranoiden Glauben, dass man ihn längst schon in seinem Versteck aufgespürt hat und nun nur noch auf die richtige Gelegenheit wartet. Der einst abgeklärte Bandenchef verliert zunehmend Kopf und Nerven…

„Schwere Körperverletzung“ ist ein Thriller, der vornehmlich im Kopf seiner nie sympathischen, nie angenehm erscheinenden Hauptfigur stattfindet – indes eine andere Sicht auf die Dinge erlaubt uns Autor Ted Lewis nicht. Nein, wir erleben hier eine Figur, die weder ihrer Umwelt noch uns als Held gegenübertritt. George Fowler präsentiert sich als eine Ich-Figur, die sich durch ihr beharrlich unangenehmes und brutales Auftreten einer Leser-Identifikation schlichtweg verweigert und es – und das ist sicher der wahre Clou des Romans – dennoch bis zum brillant komponierten Ende offen bleibt, ob wir diesem Antihelden hier nun auf dem Weg des endgültigen Scheiterns begleiten oder es diesem Unsympathen vielleicht doch noch gelingt, die Kurve zu kriegen…

Ein Erzähler, wie er im Buche steht

Tom Franklin: „Wilderer“
Pulp Master, 256 Seiten (PB)

Tom Franklin ist ein alter, ein wohlgeschätzter Bekannter bei Pulp Master. Nach grandioser Westerngroteske („Smonk“) und Krimi-Bestseller („Krumme Type, krumme Type“) hat der Verlag nun auch jenes Buch veröffentlicht, mit dem der amerikanische Autor sich seinerzeit die ersten Meriten verdiente. „Wilderer“ aus dem Jahre 1999 versammelt zehn Kurzgeschichten, in denen Franklin die Heimat seiner Kindheit und Jugend, das ländliche Alabama zur Kulisse ziemlich wilder, ziemlich rauer Stories werden lässt. Wie viele andere ländliche Regionen in den USA ist auch der Süden Alabamas durch Armut, Perspektivlosigkeit, die ewige Präsenz von Schrotflinten, verrosteten Pick-ups und Südstaaten-Hinterwäldlertum geprägt. Perfekte Bausteine also, um daraus perfekte kleine ‘Country Noir‘-Geschichten zu basteln, die mal vom Jagen und Wildern, mal vom Trinken und Betrügen, vom Erpressen und Morden, geduldigen Ausharren oder dem beharrlichen Kampf um unbedingte Selbstbestimmung erzählen. Von Träumern und Verlierern ebenso wie von Idealisten, Hoffenden, Verzweifelten und Psychopathen. All dies in einer Weise, die einen unglaublich schnell abholt, mit scheinbar wenigen Worten Figuren, Szenerien und Handlungsläufe so luzide und authentisch hervortreten lässt, dass man gar nicht anders kann und möchte, als Tom Franklin zum Meister der Kurzgeschichte zu küren. Unbedingter Lesetipp.