Riesen-Spektrum an Themen

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»Man darf nicht erschrecken. Es offenbart sich mit dem Eintritt eine gewisse brutale Eröffnung der Ausstellung mit Geschehnissen vom Rande der Gesellschaft. Eine Darstellung von ›Ausgestoßenen‹ und ›Sonderlingen‹, die aber so dargestellt sind, als sollten wir uns quasi bemühen, sie näher kennenzulernen«, betont Thomas von Taschitzki, der gerade durch die neue Ausstellung des Künstlers Volker Stelzmann im Angermuseum Erfurt führt.

Thomas v. Taschitzki vor einem der wohl spannendsten Bilder Volker Stelzmanns. Unter dem Titel »Konspiration« vereinte er seine Vorbilder (v.li.): Matthias Grünewald neben Michelangelo Buonarroti und Otto Dix, daneben Giorgio de Chirico und Lorenzo Lotto, El Greco (aufrecht stehend) und Francisco de Zurbarán, im Vordergrund rechts Rosso Fiorentino und Jacopo da Pontormo. Ganz rechts außen findet der Betrachter Stelzmann selbst und seine Frau
(Foto: Sylvia Obst)

»Der 1940 in Dresden geborene Volker Stelzmann zählt seit Jahrzehnten zu den wichtigsten figürlich arbeitenden Malern und Grafikern im deutschsprachigen Raum. Zu dessen 80. Geburtstag präsentiert das Angermuseum in Erfurt über 100 seiner Gemälde, Zeichnungen und Grafiken. In werkbiografischer Sicht gehört Stelzmann zur zweiten Generation der Leipziger Schule, wie Ulrich Hachulla, Wolfgang Peuker und Arno Rink. Bekannter sind die Künstler der ersten Generation der Leipziger Schule wie Tübke, Heisig und Mattheuer«, betont v. Taschitzki, der als Kurator der Ausstellung die Führung leitet. »Seit 1986 lebt und arbeitet Stelzmann in Westberlin und auch im 80. Jahr seines Malerlebens bewegt er sich konsequent zwischen seinem Atelier, welches er Werkstatt nennt, und den Menschen in der Stadt hin und her«, erzählt der Kurator. »Deshalb haben wir — übrigens mit ihm gemeinsam, der auch die Hängung seiner Werke selbst konzipiert hat — den Titel gewählt: ›Stadt — Werkstatt‹.«

Doch in der wahrlich spannenden neuen Schau lockt er die Betrachter auch zu Bildern, die zwischen der europäischen Kunstgeschichte und unserer Gegenwart angesiedelt sind. »Er ist bekannt dafür, seine Bildideen im kontinuierlichen Dialog mit wahlverwandten Künstlern aus der Weimarer Republik ebenso wie den Epochen der Gotik, der Renaissance und des Barock zu entwickeln«, betont der Kurator. »Er orientiert sich aber auch an neuer Sachlichkeit, verehrt Otto Dix, welcher für ihn das große Vorbild ist.« Bei Volker Stelzmanns imaginären Gesprächen mit den Alten Meistern und denen der Klassischen Moderne ist Nostalgie nicht im Spiel, dafür große Wertschätzung. Es gibt in seinem Œuvre Widmungsbilder, die er den Vorläufern seiner Kunst wie Grünewald oder El Greco zugeeignet hat. Und es gibt besondere Kompositionen, die er »Konspiration« titelte und ihn im Kreise der verehrten Maler zeigen: Otto Dix, Matthias Grünewald und Giorgio de Chirico, El Greco und Francisco de Zurbarán, Michelangelo Buonarroti, Lorenzo Lotto und Jacopo da Pontormo. Zu seiner Beschäftigung mit den Alten Meistern sagte Stelzmann übrigens selbst: »Es war nie so, dass ich dachte, dass ich etwas wie Pontormo machen wollte, das nicht. Aber ich sah in deren Bildern vieles, dass ich so spannend fand und von dort her in meine Bildwelten holen wollte, quasi eingemeinden. Mich faszinierten diese Kompositionsformen, Raumbildungen, das Licht und die Farben, die eigenartigen Verschraubungen der Körper, auch die Proportionen betreffend.«

Kurator v. Taschitzki: »Neben seinen Atelierbildern geben auch zahlreiche Selbstbildnisse Volker Stelzmanns Auskunft über die kontinuierlich-intensive Befragung der eigenen Position und jener Konstellationen, in die er sich als zeitgenössischer Künstler gestellt sieht. Von dort aus geht sein Blick immer wieder auf den Menschen in seiner urban-modernen Verfassung: eine unüberschaubare Menge an Individualisten, die in engen Räumen aufeinanderprallen, ohne einander wirklich zu begegnen.« Man könnte meinen, sie justament vor dem Museumsbesuch auf der Straße, im Bus, in der Bahn erlebt zu haben. »Die Figuren fallen ja mehr als sie schweben. Besonders das Stehen hat mich eine Zeit lang an den Manieristen interessiert«, erklärt Stelzmann selbst. »Wie die Füße gehalten werden, wie sicher das Stehen ist, eigentlich mehr das unsichere Stehen, das Schwanken und Balancieren dabei. So etwas hat mich sehr beschäftigt.«

Außerdem eignete sich Volker Stelzmann schon früh zentrale Motive der christlichen Ikonografie an: Abendmahl und Kreuzabnahme, Totenklage (Pietà) und Auferstehung. Zum einen widersprach er damit der gesellschaftlichen Erwartung an ihn, ein bestimmtes Menschenbild zu formen, zum anderen fand er hier bildhafte Formulierungen vorgeprägt, die auf existenzielle Erfahrungen jedes menschlichen Individuums reagieren, auf das, was uns allen widerfährt, dem jeder Mensch trotz all seiner individuellen Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten unterworfen bleibt. »Insgesamt ein Riesen-Spektrum an Themen!«, betont v. Taschitzki, »Und zwar vom Urbanen bis zu Hoch-Philosphischem! — Alles dabei, alles drin!«

»Volker Stelzmann: Stadt — Werkstatt«
bis zum 15.11.2020, Di–So 10–18 Uhr

www.kunstmuseen.erfurt.de

Die aktuelle Ausstellung entstand in Kooperation des Angermuseum Erfurts mit der Kunsthalle Schweinfurt und Peter Femferts »Die Galerie« in Frankfurt/Main