Eine geglückte Schreibtisch-Karriere
Im Deutschland des Jahres 1866 gab es landauf, landab eigentlich nur ein großes, die Schlagzeilen dominierendes Thema: die wachsenden Spannungen zwischen Preußen und Österreich. Diese sollten noch binnen Jahresfrist zum Ausbruch des Deutschen Krieges und, damit einhergehend, zu einer Neuordnung der bestehenden geopolitischen Landkarte Europas führen. Es waren erstaunlicherweise jedoch nicht die neuesten politischen Entwicklungen, die das Volk in allen Landesteilen an jedem Freitag aufs Neue zu den nächstgelegenen Zeitungsständen und -kiosken eilen ließ, sondern das Erscheinen der „Gartenlaube“. Schließlich würde die neue Ausgabe jener beliebten Wochenzeitschrift endlich das ersehnte nächste Kapitel der „Goldelse“ offenbaren. Jenes Romans, der bereits seit Beginn jenes krisenhaften Jahres häppchenweise und stets überaus lese-appetitanregend abgedruckt wurde – und garantiert auch dieses Mal erneut in einem aufwühlenden, geradezu ’unerträglichen’ Spannungsmoment enden würde. Die Verfasserin jenes überaus beliebten Fortsetzungsromans: eine öffentlichkeitsscheue Frau aus dem thüringischen Arnstadt, die mit ihren unter dem Pseudonym „E. Marlitt“ veröffentlichten Romanen und Novellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Millionenpublikum um sich scharte und zu einer der ersten international erfolgreichen Bestseller-Autorinnen erwuchs. Die Geschichte der Eugenie John.
Rückkehr als Neuanfang
Zunächst eher nur zur Ablenkung oder zum Troste, irgendwann jedoch auch aus schlichter Freude hatte Eugenie John in den Jahren, die sie als Mädchen für alles bei Herzogin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen weilte, damit begonnen, sich im Verfassen von Gedichten auszuprobieren. Zu ihrem eigenen Erstaunen hatten die lyrischen Zeilen dabei häufig wie von ’allein’ den Weg aufs Papier gefunden, waren von ihrer kunstsinnigen und ebenfalls dichtenden Dienstherrin auch immer wieder mit Lob bedacht worden. Eine kleine Novelle war ebenfalls nebenher entstanden und Eugenie so flüssig von der Hand gegangen, dass in ihr die Überzeugung heranreifte, hierin, im Schriftstellerinnendasein, könne womöglich ihre Zukunft liegen und sie – wie einst als junges Mädchen, als sie den Gesang für sich entdeckte – vielleicht noch ein weiteres Mal vom Glück gestreift werden. Möge die Bühnenangst ihr die Tür zur ersehnten Gesangskarriere verschlossen haben, möge die Gicht ihr die Bewegungsfähigkeit auch immer weiter einschränken – auf dem Feld der Literatur, so ihre Hoffnung, würde sie sich umso befreiter und ungehemmter bewegen können. Wie sich alsbald zeigte, lag sie damit goldrichtig.
Ihr Bruder Alfred – bei dem sie nach ihrer Rückkehr in die Heimatstadt Obdach gefunden hat, ist es, der sie auf die Idee bringt, eines ihrer bereits vollendeten Manuskripte doch der „Gartenlaube“ anzubieten. Ihre fertig in der Schublade liegende Novelle „Die 12 Apostel“ etwa, die sie ihm auch schon vorgelesen hatte, sei in seinen Augen wie gemacht für die aus Leipzig stammende Zeitschrift, welche sich seit ihrem ersten Erscheinen 1853 binnen einer Dekade zum meistgelesenen Wochenblatt deutscher Sprache entwickelt hatte, mit einer Auflagenhöhe von mehr als 100.000 Exemplaren. Das Erfolgsrezept der „Gartenlaube“: niveauvolle, gleichsam unterhaltsame, und (be)lehrende Artikel, die sowohl literarische als auch gesellschaftspolitische und populärwissenschaftliche Themen bedienten – für jedermann verständlich verfasst und überdies mit zahlreichen qualitativ hochwertigen Illustrationen versehen. Ein Heft also für die ganze Familie, in denen Eugenies volkstümliche Geschichte ohne Zweifel bestens aufgehoben wäre.
Das Gesetz der Serie
Im Sommer 1865 entschließt sich Eugenie John, den Vorschlag ihres Bruders in die Tat umzusetzen. Versehen mit dem Autorinnen-Pseudonym „E. Marlitt“ schickt sie das Manuskript ihrer „12 Apostel“ nach Leipzig – und schon wenige Tage später erhält sie eine Antwort, die definitiv vielversprechend klingt: Die eingesandte Novelle hat Ernst Keil, den Verleger der „Gartenlaube“ so überzeugt, dass er vom Fleck weg eine Veröffentlichung zusagt. Mehr noch, überzeugt vom offenkundigen Schreib- bzw. Erzähltalent des ’Herrn Marlitt’ – irrtümlich bzw. ’natürlich’ geht Ernst Keil davon aus, dass es sich bei „E. Marlitt“ nur um einen Mann handeln könne – bittet dieser um weitere Arbeiten an Kurzprosa und bietet, falls das Interesse bestehe, im Gegenzug eine engere Mitarbeiterschaft am Heft an.
Das Interesse ist selbstverständlich vorhanden, Eugenie John beglückt. Mehr als einen gerade fertig gestellten Roman, der ohne Zweifel viel zu lang ist für das Wochenblatt, hat sie zwar nicht in der Schublade, aber vielleicht erklärt sich der Verleger sich ja bereit, ihre „Goldelse“ ganz klassisch als Buch zu veröffentlichen. Erneut lässt die Antwort aus Leipzig nicht lange auf sich warten: Ernst Keil erscheint persönlich in Arnstadt, um der Autorin einen Vorschlag zu unterbreiten. Er wolle „Goldelse“ in seiner Zeitschrift als Fortsetzungsroman veröffentlichen. Aus heutiger Sicht mag diese Idee banal erscheinen, im Jahre 1865 ist sie jedoch noch weitestgehend ein Novum.
Was der Verleger in E. Marlitts Roman ’entdeckt’ hatte war, dass dieser im Gegensatz zu den meisten anderen volkstümlichen Romanen jener Zeit einen erstaunlich gut ausbalancierten Wechsel aus gemächlich-reflektierender und dann wieder handlungsbetonter beziehungsweise spannungsreicher Erzählweise aufwies – und sich damit perfekt für eine gestückelte Erscheinungsweise über viele „Gartenlaube“-Ausgaben hinweg eignen würde.
Eugenia John ist von Ernst Keils Vorschlag schnell überzeugt, bittet allerdings darum, die Zergliederung des Romans in etwa gleichlange Teile selbst vornehmen zu dürfen. Ab Januar 1866 erscheint ihre „Goldelse“ dann in neunzehn aufeinander folgenden Ausgaben der „Gartenlaube“ – und erweist sich als sensationelle Erfolgsgeschichte. In jeder neuen Folge wird die Leserschaft mit eins-zwei neuen, leicht nachvollziehbaren Wendungen in der Handlung bei Laune gehalten; in jeder Folge offenbart das Ende einen aktionsgeladenen Moment, dessen Fortgang mehr oder weniger ungewiss ist, in jedem Fall aber ein Höchstmaß an Spannung erzeugt. Klassischer ‘Cliffhanger‘ also, achtzehnmal in Serie.
Jeweils freitags zur Veröffentlichung der neuesten Ausgabe gibt es während des ersten Halbjahrs 1866 kaum ein anderes Thema in den deutschen Wohnstuben als die Fortentwicklung der „Goldelse“-Geschichte. Bald übrigens auch anderswo. Binnen kurzem wird E. Marlitts Debütroman – wie die meisten ihrer anschließend verfassten Erzählungen und Romane, insgesamt mehr als ein Dutzend – ins Englische und Französische, ins Spanische, Italienische, Russische und Polnische übertragen. Selbst im fernen China und Japan liest man bald mit großer Begeisterung die mitreißenden Geschichten der Arnstädter Autorin.
Großmeisterin des Populärromans
Eugenie Johns Aufstieg zur Bestsellerautorin E. Marlitt verläuft rasant. Mit enormer Schaffensfreude produziert sie in den nächsten Jahren einen Roman nach dem anderen – die sich allerdings in punkto Inhalt und Aufbau nur bedingt voneinander unterscheiden. Was Marlitt hier immer wieder strickt, sind volkstümlich sentimentale Geschichten im besten Sinne: stilistisch und atmosphärisch dicht ausstaffiert, der Authentizität halber zumeist auch zumeist im ländlichen Thüringen angesiedelt; mit Charakteren versehen, die in ihrer Gut- oder Bösartigkeit hölzern unveränderlich bleiben und dabei eine Handlung auskleiden, die in leichter Variation stets den gleichen Bogen schlägt. Junge selbstbewusste Frau aus dem Bürgertum ringt in einer Welt voller Probleme und höfischer Intrigen um Selbstbestimmung und Anerkennung, muss sich jeder Menge Auseinandersetzungen stellen, so manch Abenteuer bestehen und auch so manch aufopferungsvollen Moment durchleiden, um am Ende dann endlich doch ihr ’wohlverdientes’ (Liebes-)Glück in Empfang zu nehmen.
Unabhängig davon, ob die Arnstädter Erfolgsautorin einfach kein anderes Erzählkonzept zu bedienen weiß oder dieses einfach als Patentrezept schlichthin erkannt hat, trifft sie mit ihren mannigfachen Variationen des ’Aschenputtel-Themas’ genau den Geschmack der Zeit – das heißt, auf eine wachsende Marlitt-Fangemeinde, die ihre im Zwei- oder Dreijahrestakt erscheinenden Geschichten mit großer, nie nachlassender Begeisterung verschlingt. Selbstverständlich erscheint jede weitere Neuveröffentlichung ebenfalls zunächst als Serie in der „Gartenlaube“. Unmittelbar darauf werden sie jedoch sofort in Buchform veröffentlicht, teilweise ebenso in Bühnenfassungen umgearbeitet. Schließlich will auch das Theater am Marlitt-Hype mitverdienen.
An der symbiotischen Beziehung, die Verleger und Schriftstellerin selbst alsbald verbindet, profitieren lobenswerterweise beide Seiten. Während Ernst Keil sich dank seiner Starautorin über einen fortwährenden Anstieg der Auflagenzahl seiner Zeitschrift freuen darf, die Mitte der 1870er Jahre schließlich ihren Höhepunkt mit 380.000 wöchentlichen Exemplare erreichen sollte, darf sich Eugenie John nicht nur einer stetig wachsenden Leserschaft sicher sein, sondern bald auch eines Lebens, das zumindest frei von finanziellen Sorgen ist. Denn angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs, den Fortsetzungsromane wie „Goldelse“ (1866), „Das Geheimnis der alten Mamsell“ (1868), „Reichsgräfin Gisela“ (1869) oder „Das Heideprinzeßchen“ (1871) dem „Gartenlauben“-Betreiber einbringen, verdoppelt und verdreifacht dieser ihr aus eigenem Antrieb das ursprünglich vereinbarte Honorar. Der unerwartete, aber höchst willkommene Geldsegen ermöglicht es Eugenie John, sich am Hang über der Arnstädter Altstadt ein eigenes Haus – die „Villa Marlittsheim“ – errichten zu lassen, die sie 1871 gemeinsam mit ihrem Vater, Bruder Alfred und dessen Familie bezieht.
Aber auch jenseits der pekuniären Interessen zeigt sich der Leipziger Verleger seiner Starautorin überaus freundschaftlich verbunden, unterstützt sie, wo immer es möglich ist, vor allem auch, um ihr das mittlerweile durchgängig rheumatisch-schmerzerfüllte Leben in jeder denkbaren Weise zu erleichtern – beziehungsweise ihre Schaffenslust und Schaffenskraft als Schriftstellerin erhalten zu wissen.
Berühmt, aber zurückgezogen
Ja, wider aller Hoffnungen hat sich Eugenie Johns rheumatisches Gelenkleiden nach ihrer Rückkehr in die Heimat 1863 nicht verbessert, im Gegenteil: Fünf Jahre später ist sie kaum oder nur noch sehr eingeschränkt imstande, sich eigenständig außerhalb von Bett und Rollstuhl zu bewegen. Das ’Marlittsheim’ wird ihr entsprechend zur Trutzburg, die sie in den nachfolgenden Jahren kaum noch verlässt – und in die sie auch kaum jemanden einlässt. Der ’Starkult’ um ihre Person, der mit den Jahren immer größere Blüten treibt, ist ihr egal oder gar unangenehm. Zwar pflegt sie einen regen Briefverkehr in alle Himmelsrichtungen, Besuche von Fans und VerehrerInnen lehnt sie jedoch ausnahmslos ab. Selbst den Avancen eines Fürsten Pückler-Muskau, der als selbsterklärter Verehrer sowohl ihrer Romane als auch ihrer Person in einer ganzen Serie an Briefen um ihre Gunst wirbt und mehrfach auf eine Besuchserlaubnis drängt, gibt sie nicht nach. Wie viele andere, die allein um der Marlitt willen nach Arnstadt kommen, bleibt auch dem Aristokraten schließlich nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge wieder den Heimweg anzutreten.
Trotz aller (Welt)Berühmtheit, die E. Marlitt von Buenos Aires bis Shanghai und von Moskau bis Johannisburg genießt, lebt die Schriftstellerin die verbleibenden fast zwanzig Jahre ihres Lebens in der Zurückgezogenheit ihres Heims – und erobert die Welt sprichwörtlich vom Schreibtisch aus. Ein regelmäßiges Schreibpensum, die Gesellschaft des Bruders und dessen Familie und das Wissen um eine große Leserschaft ihrer zahlreichen Geisteskinder – mehr braucht sie nicht, um einen erfüllten Lebensabend zu führen. Am 22. Juni 1887 stirbt Eugenie John mitten in ihrem zehnten Roman – zufrieden mit sich und der Welt. Und sicher auch mit dem Gefühl, doch noch von einem wahrhaftigen Lebensglück heimgesucht worden zu sein.
Präsent geblieben ist die Starautorin den Arnstädtern bis heute: Ein dezent gestalteter Gedenkstein erinnert auf dem Alten Friedhof an die einstige Großmeisterin des Populärromans.