Es ist noch gar nicht so lange her, da war das „Thierleben“ von Alfred Brehm so berühmt und populär wie kein zweites zoologisches Werk. Ähnlich wie der „Duden“ oder der „Brockhaus“ durfte der „Brehm“ als Nachschlagewerk in keinem gutsortierten Bücherregal fehlen: ein mit Tausenden von Geschichten, Berichten und Beschreibungen aus der Tierwelt angefülltes Lese- und Sachbuch, das von Jung und Alt gleichermaßen durchstöbert wurde. In der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts scheint der Bestseller jedoch nun ganz zu Unrecht allmählich dem Vergessen anheim zu fallen – höchste Zeit, den „Brehm“ und sein tierreiches Leben wieder zu entstauben.
Von Dr. Matthias Eichhardt
Nicht weit von Jena entfernt erblickte Alfred Edmund Brehm im lutherischen Pfarrhaus von Renthendorf am 02. Februar 1829 das Licht der Welt. Das erste, was er erblickte, war zwar höchstwahrscheinlich kein Vogel – der Drang, das Leben und Verhalten der Tierwelt zu studieren, war ihm nichtsdestotrotz mehr oder weniger in die Wiege gelegt worden: Sein Vater Christian Ludwig Brehm war zwar hauptberuflich Pfarrer im Orte, aber wer ihn in seinem Pfarrhause besuchte, merkte schnell, dass die wahre Leidenschaft dieses Mannes dem Tierreich oder, um genau zu sein, der Vogelwelt galt. Als international anerkannter Ornithologe hatte der Vogelpastor in den Zimmern der Pfarrerei Unmengen von Vogelbälgen angesammelt – am Ende waren es mehr als 15.000 Exemplare, zum größten Teil eigenhändig erlegt und präpariert. Es war eine Sammlung von durchaus hohem wissenschaftlichen Rang, die jedem Naturkundemuseum zur Ehre gereicht hätte.
Schon beinahe zwangsläufig sprang das Interesse an Tier und Natur daher auch auf Sohn Alfred über: Angeleitet von seinem Vater durchstreifte er bereits als Kind die umliegenden Wälder, um Vögel zu beobachten und zu belauschen, zu schießen (zu seinem achten Geburtstag hatte er sein erstes eigenes Gewehr geschenkt bekommen), daheim zu untersuchen und schließlich auszustopfen. Fortwährend von seinem Vater befragt und belehrt erhielt Alfred in der Folge einen erstklassigen Naturkundeunterricht und konnte in der Folge viele Tiere und Pflanzen beim Namen nennen, noch bevor er richtig schreiben und lesen gelernt hatte.
Vor diesem Hintergrund wäre es sicher nicht verwunderlich gewesen, wenn der Junior nach Abschluss der Schule sofort ein Studium der Zoologie angeschlossen hätte. Nur, die pragmatisch eingestellten Eltern sahen darin keine guten Verdienstmöglichkeiten für ihren Sohn und entschieden, er solle besser Architekt werden. Doch das Schicksal hatte sich offenbar schon festgelegt: Alfred Brehm wollte gerade sein Architekturstudium in Dresden beginnen, als im Frühjahr 1847 im Pfarrhaus ein junger württembergischer Baron namens Johann Wilhelm von Müller auftauchte, der von dem vogelkundigen Pfarrer und seinem Sohn gehört und es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass ihn eben dieser junge Brehm als sachkundiger Berater und Gehilfe auf einer Jagd- und Sammelexpedition durch die damals erst wenig erforschten Gebiete Nordostafrikas begleiten sollte. Vater Brehm war erst vehement dagegen, gab jedoch schließlich dem beharrlichen Drängen des Sohnes nach – auch weil er sich selbst eine reiche Vogelbeute erhoffte.
Brehm erforscht Nordost-Afrika
Gerade einmal 18 Jahre alt begab sich Alfred so auf eine Reise, die ihn auf einen Kontinent führte, der zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erforscht und erschlossen war. Gemeinsam mit dem Baron fuhr er den Nil flussaufwärts bis nach Karthum in den Sudan, durchquerte Wüsten, Steppen und Urwälder. 18 Monate sollte die Reise ursprünglich dauern, zurück kam er jedoch erst nach fünf Jahren. Der Baron war schon nach etwas mehr als einem Jahr nach Deutschland zurückgekehrt, Alfred Brehm hingegen blieb trotz wiederkehrender Malaria-Anfälle, studierte die Landessitten, lernte Arabisch und trug den Burnus wie die Einheimischen. In Karthum kannte ihn bald jeder – schon weil er häufig eine zahme Löwin an der Leine mit sich führte.
Vielen anderen Entdeckern des 19. Jahrhunderts ging es um Berge, Flüsse oder Seen, die möglichst noch kein Europäer vor ihnen gesehen hat oder gar um Gebiete, die sich fürs Vaterland in Besitz nehmen ließen. Brehm hingegen war auf der Suche nach Tieren, die in der Heimat noch niemand kannte. Und davon schien es schier endlos viele zu geben. Mit einer überaus reichen Sammlung sowohl präparierter als auch lebender Tiere kehrt er schließlich 1852 in seine Heimat zurück – die gesammelten Erfahrungen auf dem schwarzen Kontinent wurden die Grundlage seiner späteren Karriere.
Entdeckung des eigenen Schreibtalents
Eine Wiederaufnahme des Architekturstudiums war nach dieser fünfjährigen ’Initiationsreise’ natürlich ausgeschlossen. Wenn, dann sollte es jetzt ein Studium der Naturwissenschaften sein. 1853 begann Alfred Brehm sein Studium an der Universität in Jena – und schloss dieses bereits nach vier Semestern mit einer Promotion ab: Aufgrund seiner praktischen Erfahrungen als Afrikareisender gewährte man ihm einen Sonderstatus und erkannte einige Kapitel seiner wenig später veröffentlichten „Reiseskizzen aus Nord-Ost-Afrika“ als Dissertation an.
Nach seiner Promotion ließ sich Alfred Brehm zunächst als Naturkundelehrer und freier Schriftsteller in Leipzig nieder. Er hatte Kontakt zu Ernst Keil, dem Verleger der „Gartenlaube“ – dem damals erfolgreichsten Massenblatt mit einer Auflage von fast 100.000 Tausend Exemplaren – geknüpft und begann, meist in den frühen Morgenstunden vor dem Schuldienst, wie besessen verschiedenste Artikel für die Illustrierte zu schreiben: Einmal über Vogelschutz, ein andermal über Nilpferde – stets unterhaltsam, voller Anschaulichkeit und für jedermann verständlich. Nebenher ging er immer wieder auf ausgedehnte Reisen – zuerst nach Spanien, danach nach Norwegen, Schweden und Lappland, schließlich zum zweiten Mal nach Afrika, in das Hochland Abessiniens. Allerorten wollte die Tierwelt, und insbesondere die lokale Vogelwelt noch ausgiebig studiert werden. Niederschlag fanden diese Forschungsreisen 1861 in dem Buch „Das Leben der Vögel. Dargestellt für Haus und Familie“, das Alfred Brehm als exzellent erzählenden Tierkenner in noch weiteren Kreisen bekannt werden ließ.
Zoodirektor in Hamburg
Brehms gewachsene Popularität als Schriftsteller veranlasste in der Folge auch einen weiteren recht ambitionierten Verleger, Hermann Julius Meyer aus Hildburghausen, sich mit dem Tierkenner in Verbindung zu setzen und diesem die Idee eines großen, mehrbändigen Werkes über das gesamte Tierreich inklusive einer detaillierten Beschreibung derer Lebensumstände und -gewohnheiten einzuimpfen. Bei Brehm rannte Meyer damit offene Türen ein: Schon länger hatte diesen beschäftigt, dass sämtliche tierkundlichen Werke seiner Zeit sich nur auf äußerliche Beschreibungen der Tiere beschränkten, deren Lebensabläufe, Verhaltensweisen, Gewohnheiten etc. jedoch weitestgehend ausblendeten.
Brehm machte sich daraufhin ans Werk, das „Thierleben“ zu verfassen – allerdings nicht mit all der Zeit und Ruhe, die er sich wohl wünschte, da er seit 1862 auch noch das Amt eines Zoo-Direktors bekleidete. Gerade aus Äthiopien zurückgekehrt, hatte ihn das Angebot des Verwaltungsrates des Hamburger Zoologischen Gartens erreicht, diesen als ersten Direktor zu führen. Brehm fiel die Entscheidung leicht, da man ihm zusicherte, er würde freie Hand haben, zudem über ausreichend finanzielle Mittel verfügen können, um die Anlage nach dem neuesten Erkenntnisstand zu gestalten.
Fortan fuhr er daher also zweigleisig: Als Zoodirektor modernisierte er die ziemlich verlotterte Anlage, plante großzügige und tiergerechte Schaugehege und erwarb neue Tierattraktionen. Schon nach einem Jahr unter seiner Leitung beherbergte der Zoo die beachtliche Zahl von 1200 Tieren in 330 Arten und lockte monatlich Tausende von Besuchern an. Als Schriftsteller arbeitete er ’nebenher’ weiter an seiner Tierenzyklopädie, 1863 kam der erste von sechs geplanten Bänden heraus, die anderen folgten bis 1869. Doch schon nach dreieinhalb Jahren war seine Karriere als Zoodirektor wieder beendet.
In den Augen des Verwaltungsrates betrieb Brehm zu wenig Öffentlichkeitsarbeit, zudem befürchteten dieser, die Ausbaupläne des Tierliebhabers könnten noch kostspieliger als bisher werden und beschnitten daher seine Kompetenzen drastisch. Brehm, zeitlebens ein unbeugsamer und streitbarer Mann, wenn es um seine Überzeugungen ging, protestierte heftig, aber vergebens und reichte schließlich Ende 1866 seine Kündigung ein.
Das „Tierleben“ gewinnt seine Leserschaft
Aber es wartete schon eine nächste Aufgabe auf ihn: In Berlin sollte Unter den Linden ein Aquarium entstehen wie es die Einwohner der Hauptstadt noch nicht gesehen hatten. Brehm sollte es einrichten und leiten. Trotz der schlechten Erfahrungen in Hamburg nahm er das Angebot an und schuf in relativ kurzer Zeit eine großzügige, zweistöckige Anlage mit grottenähnlichen Gewölben, dämmrigen Nischen, 300 Meter langen gewundenen Gängen und riesigen Schaubecken. Im Erdgeschoss des Gebäudes waren hierbei die Süßwasser- und Meeresfische untergebracht, die erste Etage war hingegen eher ein ’Vivarium’ und beherbergte sowohl Reptilien, Amphibien und exotische Vögel aller Art als auch vielerlei Säugetiere, unter anderem auch den ersten ausgewachsenen Gorilla, der in Deutschland ausgestellt wurde. Wie der Hamburger Zoologische Garten wurde auch das Berliner Aquarium unter der Leitung von Alfred Brehm ein voller Erfolg – allein in den ersten drei Monaten nach seiner Eröffnung im Mai 1869 bestaunten mehr als 100.000 Besucher die dargebotene Tiervielfalt.
Noch im gleichen Jahr konnte Brehm einen zweiten, ganz persönlichen Triumph feiern: Mit dem Erscheinen des sechsten Bandes hatte er seine damals noch „Illustrirtes Thierleben. Eine allgemeine Kunde des Thierreichs von A.E. Brehm“ genannte Tier-Enzyklopädie, die hiernach als „Brehms Tierleben“ oder noch kürzer als „der Brehm“ weltweite Berühmtheit erlangen sollte, endlich vollendet. Von den sechs Bänden dieses „Ur-Brehm“ sind die ersten zwei den Säugetieren und die beiden folgenden den Vögeln in aller Ausführlichkeit vorbehalten; im fünften Band werden die Kriechtiere, Lurche und Fische zusammen behandelt, und für die Insekten, Spinnentiere und wirbellosen Wassertiere blieb der letzte Band.
Mit einem Gesamtumfang von insgesamt mehr als 5500 Seiten, 1500 Abbildungen und 112 ganzseitigen Tafeln war die Tierwelt in diesem Werk so packend, unterhaltsam und anschaulich beschrieben, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die sonst nur einem vorgebildeten Fachpublikum zugänglich waren, jetzt dem ganzen Volk zugänglich waren.
Getreu dem Motto ’Tiere sind auch nur Menschen’ vermenschlichte Brehm als meisterhafter Erzähler natürlich hemmungslos alles, was da durch seine Bücher lief, schwamm, flog, krabbelte oder fleuchte und sparte auch nicht mit Werturteilen. Zwar hegt er in seinen Beschreibungen für die meisten Tiere aufrichtige Sympathie – insbesondere natürlich für die Vögel – mitunter verteilte er allerdings auch deftige Kopfnoten. Dem Mops etwa wirft er mangelnde Schönheit vor: „Die Welt wird nichts verlieren, wenn dieses abscheuliche Tier den Weg allen Fleisches geht!“ Beim Känguru entblößt er nur allzu gern die geringe Intelligenz: „Das Känguru hat einen ausgesprochen schwachen Kopf. Aber in freudige Erregung kann es geraten, wenn es nach lang dauernder Hirnarbeit zu der Erkenntnis kommt, dass es auch unter Kängurus zwei Geschlechter gibt.“ Wirklich schlecht kommt bei ihm schließlich der Pavian weg: „Wir finden im Pavian das rüdeste, hässlichste und flegelhafteste Mitglied der ganzen Ordnung. Wir sehen in ihm den Affen auf der tiefsten Stufe. Jede edlere Geistesfähigkeit ist hier in den scheußlichsten Leidenschaften untergegangen.“ Einem wissenschaftlichen Anspruch genügten diese Urteile natürlich kaum, bei seiner Leserschaft brachten diese nie langweiligen naturwissenschaftlichen (Er)Kenntnisse und Tierbeschreibungen jedoch soviel Begeisterungsstürme hervor, dass die Erstausgabe, obwohl wahrhaftig nicht billig, schon nach kurzer Zeit vergriffen war.
Alfred Brehm machte sich infolgedessen umgehend daran, das gewaltige Manuskript seines ’Kindes’ für eine zweite Auflage zu überarbeiten – die noch umfangreicher werden und insgesamt zehn Bände umfassen sollte und nach einiger Zeit der Vorbereitung zwischen 1876 und 1879 schließlich unters Volk gebracht wurde.
Verbreitung eines Vermächtnisses
Zum Erscheinungszeitpunkt der ersten Bände dieser zweiten Auflage war Brehm indes schon längst nicht mehr Direktor des Berliner Aquariums. Es war ihm hier nicht anders als zuvor in Hamburg ergangen: Er wollte als Direktor freie Hand haben und sich nicht kontrollieren lassen, der Verwaltungsrat wiederum hatte Angst vor seinen zahllosen kostspieligen Plänen und setzte ihm daher zur Kontrolle einen Mitdirektor an die Seite. Es kam zu Auseinandersetzungen und Reibereien – Anfang des Jahres 1874 wurde ihm schließlich wegen „Indifferentismus, Napolismus und Egoismus“ gekündigt.
Von da an ließ sich Alfred Brehm auf keine Anstellungen mehr ein, blieb lieber sein eigener Herr als freier Schriftsteller und Vortragsreisender. Denn der Vater des „Tierlebens“ war nicht nur ein grandioser Erzähler und hervorragender Stilist, sondern verstand es gleichermaßen, wo auch immer er mit seinen Wandervorträgen auftrat, das Publikum mit seinen sich nie erschöpfenden Geschichten und Berichte aus der Tierwelt zu fesseln.
1883 entschloss Alfred Brehm sich schließlich sogar, auf mehrmonatige Vortragsreise quer durch die Vereinigten Staaten zu gehen. Es sollte sein letzte Reise werden: Schon nach wenigen Wochen des Aufenthaltes setzte ihm erneut jenes Fieber zu, das ihn schon als Jugendlicher bei seiner ersten Afrikareise ans Bett gefesselt hatte: die Malaria. Trotz Erkrankung beendete er seine Vortragsreise zwar, bei seiner Rückkehr in Deutschland schien er seiner Umwelt jedoch um Jahre gealtert. Alfred Brehm spürte wohl, dass es Not tat, sich zur Ruhe zu setzen und kehrte in seine thüringische Heimat nach Renthendorf zurück, wo er kurz darauf am 11. November 1889 gerade einmal 55-jährig verstarb.
Ihm selbst blieb die Gewissheit, die Seele des Tieres ein wenig besser verstanden zu haben; der Welt jedoch hinterließ er mit seinem „Tierleben“ ein Vermächtnis, das, wie Hugo von Hofmannsthal es in Worte fasste, „ins Volk gewirkt hat wie wenige“ – und so auch heute noch all jenen, die sich die Welt der Tiere auf anschaulich unterhaltsame Weise erschließen wollen, eine essentielle Quelle sein kann.
Wer mehr über das Leben und Wirken Alfred Brehms erfahren möchte, sollte unbedingt der Brehm-Gedenkstätte in Renthendorf einen Besuch abstatten. Mehr Infos: www.brehm-gedenkstätte.de!
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 80 im Erfurter Stadtmagazin tam.tam.