Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände weiterhin empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Yulia Marfutova: »Der Himmel vor hundert Jahren«
Zauberhafte Realitätsfluchten
Yulia Marfutovas „Der Himmel vor hundert Jahren“ setzt um 1918 ein – irgendwo in den Tiefen Russlands, „am abgelegensten und vergessensten Ort des Reiches“, in einem Dorf, dessen Bewohner zum Großteil noch nie das jenseitige Ufer des Flusses vor ihrer Haustür betreten haben, für die das Dorfleben alles Bekannte ausmacht und alles andere, alles, was außerhalb der Dorfgrenzen ist oder von daher kommt, eher argwöhnisch beäugen. Wie etwa das Barometer, mit dem der alte Ilja seit Neuestem das Wetter studiert und das von allen nur „das Röhrchen“ genannt wird. Pjotr, sein Konkurrent im Rennen um das Amt des Dorfältesten hält es da lieber mit der guten alten Tradition, vertraut auf Weisheiten, Mythen und Aberglauben. Wie wiederum auch Iljas Frau Inna Nikolajewna, die gutem, altem osteuropäischen Aberglauben folgend fest daran glaubt, dass ein Fremder im Dorf erscheinen wird, weil sie ein Messer hat fallen lassen. Und tatsächlich taucht dieser wenig später auf: barfuß, aber in schmucker Uniform, nur bedingt auskunftsfreudig, dafür steter Quell zahlloser Gerüchte und Vermutungen, die nun durchs Dorf geistern. Offizier? Deserteur? Scharlatan? Keiner weiß wirklich etwas, jeder meint etwa zu wissen. Pjotr ist von all dem wenig begeistert und beschließt, die Flussgeister um Hilfe zu bitten, über ihr Wohlergehen zu wachen – und verschwindet spurlos. Woraufhin ganz ohne Prophezeiung erneut zwei Neuankömmlinge auftauchen und alle gewohnte Ordnung vollends aus dem Ruder laufen lassen…
Die 1988 in Moskau geborene, in Deutschland studierte und derzeit in den USA lebende Yulia Marfutova hat mit „Der Himmel vor hundert Jahren“ einen Debütroman vorgelegt, der im wahrsten Sinne des Wortes nichts anderes will als zu erzählen – und das ganz so, als sei er aus dem Lessing‘sche Credo „Schreibe, wie Du redest, so schreibst Du schön“ geboren: als ein wunderbar vor sich hinwabernder Erzählreigen, der in seiner surreal-märchenhaften Anmutung nicht nur enormen Unterhaltungswert besitzt, sondern auch ein ureigenes Gefühl wohliger Geborgenheit verbreitet. Ganz starker Wurf.