Lesestoff für die Frühlingszeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände weiterhin empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Begegnungen mit wilden Tieren und entlegenen Landschaften – Teil 2: Nastassja Martins »An das Wilde glauben«

Der Bär in ihrem Kopf

Nastassja Martin: „An das Wilde glauben“
Matthes & Seitz Berlin, 142 Seiten (geb.)

Die beiden Franzosen Sylvain Tesson und Nastassja Martin sind sich wahrscheinlich noch nie begegnet, haben vielleicht auch noch nie voneinander gehört – und teilen dennoch ein gemeinsames Interesse: eine große Leidenschaft für das Wilde, Ursprüngliche und die Fremde, vor allem jene, die wahrhaftig weit abseits gängiger Touristenpfade mehr oder weniger am Ende der Welt liegt. Sylvain Tesson hat mit „Der Schneeleopard“ eine Reisebeschreibung vorgelegt, die in ihrer deutschen Übersetzung sicher viel Aufmerksamkeit erhalten wird – Nastassja Martins ebenfalls dieser Tage erschienene „An das Wilde glauben“ braucht sich hinter dessen meistverkauften frankophonen Buch 2019 keinesfalls zu verstecken. Ganz im Gegenteil: Die Art und Weise, wie sie sinnlich und zugleich packend ihre Begegnung mit dem Wilden bzw. der ursprünglichen Wildnis schildert, macht ihre autobiographische Erzählung jener Tessons durchaus ebenbürtig.

Anders als bei Sylvain Tesson war Nastassja Martins Begegnung mit einem Braunbär weder gewünscht noch herbeigesehnt, überdies auch nicht nur auf eine gegenseitige Inaugenscheinnahme beschränkt. Als Anthropologin mit dem Spezialgebiet der ethnografischen Erforschung indigener Völker des hohen Nordens hatte sie bereits längere Zeit bei Indigenen in Alaska verbracht, zuletzt nun einige Jahre im fernen Nordosten Russlands, auf Kamtschatka gelebt. Zielstellung dort: die Kultur der Ewenen kennenlernen, die trotz aller Annehmlichkeiten und Fortschritte, die ihnen das 21. Jahrhundert bieten könnte, vielfach noch immer in einer über Jahrhunderte gepflegten Eintracht und Verbindung mit der Natur leben. Weniger galt Martins anthropologisches Interesse hingegen der Erforschung der einheimischen Kamtschatka-Bären. Auf einer Wanderung zu einem der zahlreichen Vulkane der Halbinsel stolperte sie jedoch beinahe sprichwörtlich einem solchen etwa kleinwagengroßen Braunbär-Exemplar in die Arme und überlebte die für beide Seiten wenig zärtliche Begegnung nur mit Müh und Not – und schlimmen Gesichtsverletzungen.

Auf den Spuren gelebten Animismus

Was folgt ist eine lange Odyssee der Genesung, die sich bei weitem nicht nur auf die Heilung der äußerlichen Spuren beschränkt, die der Bär auf ihrem Körper hinterlassen hat. Martin spürt vielmehr, dass der ‘Kuss‘ des Bären auch innerlich etwas in ihr verändert hat, dass sie auch einer innerlichen Genesung bedarf, um Frieden zu schließen mit dem Wilden, das in sie eingedrungen, für immer eingezeichnet ist. Überzeugt davon, dass sie in ihrer französischen Heimat hierfür keine Heilung finden wird, kehrt sie daher, kaum dem Krankenbett entstiegen, wieder ans Ende der Welt, nach Kamtschakta zurück. Dort im Wald, bei den Ewenen von Itscha, bei denen sie noch bis vor Kurzem wie ein Familienmitglied gelebt hatte, deren gelebter Animismus längst auch ein Teil ihres eigenen Lebens, ihrer gelebten Weltanschauung geworden ist, hofft sie, die Metamorphose vollenden, sich mit ihrem neuen Ich anfreunden zu können.

Ganz ‘nebenbei‘ lässt sie uns währenddessen an einer gedanklichen Betrachtung der Welt aus Sicht der ‘Naturvölker‘ des fernen Nordostens teilhaben, die hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch und Natur, von Medizin und Heilkunst, von Traumwelt und Wirklichkeit so grundverschieden von unserem eigenen westlich geprägten Lebensanschauung ist, dass Nastassja Martins Buch gleich in mehrfacher Hinsicht eine literarische Bereicherung darstellt: „An das Wilde glauben“ ist in dieser Hinsicht nicht weniger als eine mitreißende autobiografische Erzählung, eine packende Dokumentation und eine persönliche Reflexion über das Wilde, die weit hinausführt aus der Welt, wie wir sie kennen.