»Willy Brandt ans Fenster« – wo dieser Ruf des Volkes in Form einer Leuchtschrift als Denkmal in Erfurt angebracht ist, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Auf dem Dach des »Erfurter Hofs« erinnert die Leuchtschrift an das historische Treffen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph im Jahre 1970, die sich hier zu einem ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen zusammenfanden. Eine andere Begebenheit, die dem Hotel einst zu nicht minder großer überregionaler Bekanntheit verhalf, ist indes ein wenig in Vergessenheit geraten: der Besuch des ›falschen Prinzen‹ im Herbst 1926.
Wahrscheinlich im Jahre 1905 als gebürtiger Deutschbalte im lettischen Dörfchen Grusche geboren und hiernach in der nahen Kleinstadt Bauske aufgewachsen, verlebte Harry Domela seine ersten Lebensjahre durchaus wohlbehütet an Mutters Rockzipfel. Im Alter von zehn Jahren reißt ihn der Erste Weltkrieg jedoch unversehens aus dem Glück und der Unschuld seiner Kindheit heraus: Während er gerade zu Besuch bei seinem älteren Bruder in Riga weilt, besetzen deutsche Truppen seine Heimat. Harry Domela kann plötzlich nicht mehr nach Hause zurückkehren und wird — da man seinen Bruder zur Landesverteidigung einberufen hat — kurzerhand in ein städtisches Asyl gesteckt. Ade, wohlbehütete Kindheit.
In den politischen Wirren des Jahres 1917 findet der Junge zwei Jahre später zwar nach Bauske, jedoch nicht mehr wirklich an Mutters Rockzipfel zurück. Die Erfahrungen der Anstalt haben sie ihm einfach zu sehr entfremdet. Und dem ersten Schritt seiner Entwurzelung folgt auch bald ein zweiter: Abenteuerlustig schließt er sich 1919 einem Trupp von Freischärlern an, die damals im Baltikum operierten, um als vierzehnjähriger Kindersoldat gegen die sowjetischen Besatzer seiner Heimat zu kämpfen. Nur, als die aus Deutschen und Balten bestehende Freiwilligenformation ein Jahr später erst nach Brandenburg verdrängt und dann schließlich aufgelöst wird, steht der Abenteurer nicht bloß unversehens mittel-, sondern auch staatenlos da: In der lettischen Heimat ist er nicht mehr willkommen, gilt dort als Hochverräter. Und in Deutschland will man den Vertriebenen auch nicht haben — die Behörden verweigern ihm einen Pass.
Völlig auf sich allein gestellt, bleibt Harry Domela in der Folge nichts anderes übrig, als sich mit Beschäftigungen durchzuschlagen, bei denen nicht nach Ausweispapieren gefragt wird und darauf zu hoffen, dass sich alles irgendwie fügt. Er zieht durch die Lande, ist mal Ziegelarbeiter, mal Knecht, mal Gärtnergehilfe, Handlanger oder Hausbursche. Obwohl er durchaus gewillt ist, für seinen Lebensunterhalt hart zu arbeiten, bleibt er nirgendwo lange: Mal wird er nach kurzer Zeit nicht mehr gebraucht, mal sind die Arbeitsbedingungen so demütigend, so unerträglich, dass er es irgendwann nicht mehr aushält. Wochen, Monate treibt er von einem Ort zum nächsten, viele Nächte verbringt er in Obdachlosenasylen oder Bahnhofswartehallen, bettelt, friert und hungert.
Kurzes Glück
Einmal, Anfang des Jahres 1922 — er ist gerade wieder einmal als Saisonkraft entlassen worden, scheint es, als habe der Siebzehnjährige endlich den ersehnten Ausweg aus seinem Vagabundendasein gefunden: Ohne ein wirkliches Ziel vor Augen hat es ihn nach Erfurt verschlagen: »Als ich aus dem Bahnhof heraustrat«, berichtet er später in seinen Lebenserinnerungen, »sah ich gegenüber einen mächtigen Hotelpalast, den Erfurter Hof, das Hotel Kossenhaschen. Ich schämte mich, auf die Straße zu treten. Ich sah so verheerend aus, daß die einfachsten Leute einen Bogen um mich zu machen schienen.« Die ernüchternde Ankunft hält ihn jedoch nicht davon ab, in der prosperierenden thüringischen Metropole nach Arbeit zu suchen. Und tatsächlich hat er sofort Erfolg: In der Maschinenfabrik »Erfordia« wird er als Aushilfskraft eingestellt und kann sich, da ihm der Betriebsdirektor gewogen ist, schnell zum Zeichner emporarbeiten. Endlich geordnete Strukturen, endlich ein regelmäßiges Einkommen — selbst ein eigenes Zimmer kann er sich jetzt leisten.
Doch das Glück bleibt nicht von Dauer, will sich einfach nicht halten lassen: Als die Reichsregierung im Sommer des gleichen Jahres die Order erlässt, dass aufgrund der drückend hohen Arbeitslosigkeit alle Reichsfremden umgehend aus den Betrieben zu entlassen seien, fällt der Staatenlose erneut dem Vagabundendasein anheim. Erneut zieht er im Land umher, wird immer wieder auch verhaftet und vorübergehend festgesetzt — mal wegen Sitzens im beheizten Bahnhofswartesaal ohne Fahrkarte, wiederholt aber auch wegen Diebstahls und verschiedener Betrügereien.
Irgendwann ist ihm die fortwährende Not eine derart unerträgliche Kränkung geworden, dass er einfach nur noch weg will aus Deutschland. »Ich hatte nur noch den einen Gedanken: auf irgendeinem Schiff Europa zu verlassen und in einer anderen Welt mein Glück zu versuchen.« Mit bei Freunden und Bekannten geborgtem Geld reist er nach Hamburg, jedoch ohne Pass ist auch dort der Traum vom Neuanfang schnell ausgeträumt.
Also geht seine Irrfahrt innerhalb deutscher Grenzen weiter. Mit etwas Geld, dass er beim Glücksspiel gewinnt, schlägt er sich wieder gen Süden durch und landet — vielleicht in Erinnerung an die kurze, gute Zeit, die er dort hatte — im November 1926 erneut in Erfurt. Im abgetragenen grauen Straßenanzug, mit staubig-gelben Schuhen und einem Rucksack, der all seine Habseligkeiten enthält, auf dem Rücken, steigt er aus dem Zug und hat die gleiche Kulisse vor Augen wie wenige Jahre zuvor: »Als ich am Erfurter Hof vorbeiging, warf ich einen Blick in das Vestibül«, schreibt er in seinen Erinnerungen, »Mußte es nicht fabelhaft sein, mal ein paar Tage hier auszuruhen, ganz zurückgezogen, mit einem guten Buch, von lautlosen Kellnern bedient?«
Willkommen im ›Erfurter Hof‹!
Kurzentschlossen betritt er das Nobelhotel — und trägt sich ganz souverän als ›Baron von Korff‹ ins Gästebuch ein. Schon in Heidelberg, wo er auf dem Weg in den Süden spontan aus dem Zug gestiegen war und sich als ›Prinz von Lieven‹ von den Burschenschaftlern der Saxo-Borussen hatte aushalten lassen, war ihm aufgegangen, wie ungleich leichter ihm alles zufiel, wenn er nur einen aristokratisch klingenden Name zum Vorschein brachte. Wie man vornehm und kultiviert auftritt, sich wie ein Mann von Welt präsentiert und eine gewandte Sprache an den Tag legt — all das hatte er sich in den verschiedenen Herrenhäusern abgeschaut, in denen er als Hausbursche in den vergangenen Jahren beschäftigt gewesen war. Zudem ist ihm offenbar auch ein gewisses schauspielerisches Talent gegeben. Entsprechend überzeugend kommt seine Vorstellung im »Erfurter Hof« an: Mit einer kleinen Verbeugung wird dem ›Baron‹ ohne eine weitere Legitimation seiner Person der Zimmerschlüssel ausgehändigt, sein Gepäck ihm aufs Zimmer getragen.
Die ersten Tage verbringt Harry Domela hauptsächlich mit Schlafen, findet sich nur zu den Mahlzeiten im Speisesaal ein. Dort fällt er auch dem Hoteldirektor ins Auge, der indes nicht das in ihm entdeckt, was er tatsächlich ist — ein Hochstapler, sondern dank seines ›feinen Gespürs‹ einen ganz besonderen Gast zu erkennen meint. Er ist sich sicher, dass Baron von Korff niemand anderes als Prinz Wilhelm, Enkel des letzten Hohenzollern-Kaisers Wilhelm II. sein kann, der hier gerade inkognito sein Haus beehrt.
Harry Domela, der sich mit seinem Auftritt als ›Baron von Korff‹ lediglich ein paar Tage eines würdigeren Lebens zu erschwindeln hoffte, nimmt die zuvorkommende Behandlung, die ihn alsbald von den allen Bediensteten des Hauses zuteilwird, gern an. »Hatte ich eine Zigarette anzünden wollen, gleich waren aus allen Ecken vier, fünf Geister hervorgestürzt, um mir Feuer anzubieten. Hatte ich in der Halle still für mich dagesessen, um mir das Geschiebe und Getriebe der Hotelwelt anzusehen {…}, hatte ich immer wieder die Augen soundso vieler Liftboys und Kellner starr auf mich gerichtet gesehen.«
Schließlich fasst sich der Direktor ein Herz und bittet seinen ›Prinzen‹ huldvoll, in das Goldene Buch des Hauses etwas einzutragen. Woraufhin der Hochstapler, der jetzt begreift, für wen sein Gegenüber ihn tatsächlich hält, sich bereitwillig in die ihm aufgedrängte Prinzenrolle ›ergibt‹ und das Buch als ›Wilhelm, Prinz von Preußen‹ signiert.
Der falsche Prinz
Mit dem neuen Namenskleid am Leibe gelingt es dem ›Aristokraten‹ Harry Domela in der Folge auch mühelos, den vermeintlich lebenserfahrenen Hotelbesitzer des »Erfurter Hofs« Georg Kossenhaschen von seiner Person zu überzeugen. Ganz angetan von dem galanten jungen Mann, lädt dieser den vermeintlichen Prinzen nicht nur auf seinen Landsitz nach Creuzburg ein, sondern öffnet ihm auch Tor und Tür zu den höchsten Kreisen der Thüringer -Gesellschaft. Nur allzu gern zeigen sich die ›Blaublütigen‹ in Erfurt, Weimar und Gotha bereit, an die Echtheit des Hohenzollern-Prinzen zu glauben — buhlen geradezu darum, seine Bekanntschaft zu machen. Und seine ›Königliche Hoheit‹ kann sich kaum erwehren, den dargebotenen Luxus und das Umschwärmtsein in vollen Zügen zu genießen — lässt sich zu Theaterbesuchen, Empfängen, Abendgesellschaften, Autofahrten und Jagdausflügen einladen.
Gleichzeitig weiß der Hochstapler in ihm allerdings auch, dass dieses bereits mehrere Wochen andauernde Leben im thüringischen ›Schlaraffenland‹ droht, ein baldiges Ende zu finden: In den Lokalzeitungen waren bereits erste Berichte über seine Anwesenheit erschienen. Würde auch die überregionale Presse davon erfahren, wäre er im Nu aufgeflogen.
Bevor seine Hochstapelei vor Ort tatsächlich entdeckt wird, gelingt es Harry Domela in der Tat noch der Situation zu entfliehen. Per 4. Klasse-Ticket setzt er sich ›unerkannt‹ von Weimar aus ins Rheinland ab, beschließt dort, Deutschland nun endgültig den Rücken zu kehren und zur Fremdenlegion zu gehen. Doch bevor es dazu kommt, geht er der Polizei, die mittlerweile landesweit nach ihm sucht, Anfang 1927 doch noch ins Netz. Man hatte bei einer Personenkontrolle einen Brief in seiner Tasche gefunden, der an »Seine Prinzliche Hoheit« gerichtet war …
Bezeichnenderweise trat im anschließenden Prozess keiner der Betrogenen selbst in den Zeugenstand: zu blamabel erschien ihnen die eigene Torheit, zu groß das öffentliche, nun wirklich überregionale Interesse an dem Fall. Denn was der Scharlatan hier entblößt hatte und jetzt schmählich und ausführlich den Zeitungen diskutiert wurde, war eine Gesellschaftsschicht, die acht Jahre nach Absetzung des Kaisers noch immer derart in ihrer Servilität und Obrigkeitshörigkeit verhaftet war, dass sie sogar einen Jüngling im fadenscheinigen Reiseanzug als vermeintlichen kaiserlichen Sprössling hofierte, nur weil dieser es verstand, wie ein Aristokrat aufzutreten. Harry Domela hatte mit seiner Hochstapelei eine ganze Gesellschaft bloßgestellt.
Als der ›falsche Prinz‹ Ende 1927 schließlich das Gefängnis verlässt — das Gericht hatte ihn zu ›lediglich‹ sieben Monaten Haft verurteilt, ist er bekannt wie ein bunter Hund: Während der Haftzeit hat er sein Lebensabenteuer niedergeschrieben und publiziert, das nun alle lesen wollen. Mehr als 120.000 Exemplare von »Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer« gehen innerhalb eines Jahres über die Ladentische, wochenlang lacht die gesamte Nation über seine erfolgreiche Hochstapelei in Thüringen.
Die 250.000 Mark, die er an seinen Lebenserinnerungen verdiente, investierte Harry Domela übrigens in die Eröffnung eines eigenen Lichtspieltheaters im Berliner Norden. Drei Monate lang lief hier der immer gleiche Film: »Der falsche Prinz« mit Harry Domela in der Hauptrolle. Dann ist die Begeisterung um die spektakuläre Hochstaplergeschichte endgültig erloschen und der Kinobesitzer wenig später wieder pleite.
Aufgerappelt hat sich Harry Domela natürlich auch nach dieser Niederlage, um andernorts unter neuen Namen einen weiteren Neustart hinzulegen. Dies ist jedoch eine andere Geschichte …