Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstand in Deutschland ein neuer Beruf: Rechenmeister waren im Handel, bei Behörden und Adeligen gefragt. Keineswegs der erste, jedoch bei weitem der bekannteste unter diesen war Adam Ries – weil er das Rechnen auch dem gewöhnlichen Volk zugänglich machte. Den Grundstein seines die Jahrhunderte überdauernden Ruhmes legte er vor 500 Jahren in Erfurt mit der Veröffentlichung seines ersten Rechenbuchs.
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Zwei plus zwei macht vier und dreimal drei ergibt neun. Was Kinder heutzutage bereits in der Grundschule lernen, dazu war zu Beginn der Neuzeit ein Großteil der deutschen Bevölkerung nicht fähig: zu rechnen. Elementares Rechnen als Lehrfach existierte in den öffentlichen Schulen praktisch nicht. Gelehrt wurden hier Lesen und Schreiben, wer übers einfache Zahlenlesen hinaus die Grundregeln der Mathematik erlernen wollte, musste sich privat darum kümmern. In einer Zeit, wo das Land in viele Fürstentümer und Grafschaften zergliedert war, die zwar untereinander regen Handel betrieben, häufig jedoch über eigene Maße, Gewichte und Währungen verfügten, erwies sich dieser Umstand sowohl für Kaufleute als auch für das einfache Volk als ein tatsächliches Problem. Während erstere ihre Söhne auf Privatschulen schickten, um sich dort in der Kunst des Rechnens unterweisen zu lassen, blieb dem kleinen Mann häufig nur, darauf zu vertrauen, dass ihn sein Gegenüber beim anstehenden Geschäft nicht über den Tisch zog…
Der Mann, der maßgeblich dazu beitrug diese Misere zu beenden und auch dem einfachen Volk den Weg in die Welt des Rechnens eröffnete, war der deutsche Rechenmeister Adam Ries. Genau – jener, den man heute noch gern floskelhaft herbeizieht, um die Richtigkeit seines Rechenergebnisses zu betonen. Um es jedoch gleich vorwegzunehmen: Wann genau und von wem dieses geflügelte Wort „Das macht nach Adam Ries(e)…“ geprägt wurde, ist genauso wenig bekannt wie es an biografischen Angaben zu Adam Rieses Kindheit und Jugend mangelt.
In der Folge ist es nicht verwunderlich, dass bis vor wenigen Jahren noch mehrere mitteldeutsche Städte von sich behaupteten, der Geburtsort des berühmten Rechenmeisters zu sein. Erwiesen ist heute: Adam Ries wurde 1492 im oberfränkischen Staffelstein geboren – wahrscheinlich als Sohn einer gutsituierten Familie, die am Marktplatz in einem kleinen Bürgerhaus wohnte. Darüber, welche Schulbildung er genoss haben mag, existieren hingegen nur Mutmaßungen. Vermutlich erlernte er neben Lesen und Schreiben auch die damalige Gelehrtensprache Latein, vermutlich erwarb er seine mathematischen Fähigkeiten auf einer der Privatschulen in Nürnberg, Augsburg oder Ulm, die zum damaligen Zeitpunkt einen besonders guten Ruf hatten. Da es damals üblich war, den Ort der Lehrzeit nach deren Beendigung zu verlassen, um Konkurrenz zu vermeiden, ist Ries vermutlich auch auf Wanderschaft gegangen – um einen Ort zu finden, an dem er die Erlaubnis erhalten würde, eine eigene Rechenschule zu eröffnen.
Ein Lebensziel wird gesteckt
Diese Erlaubnis wurde dem mittlerweile 26-jährigen Rechenmeister in Erfurt gewährt. 1518, so belegen Urkunden, zog er in die thüringische Handelsmetropole und eröffnet in der Nähe der Universität eine eigene Rechenschule. Von besonderem Wert erwies sich für ihn schon bald der freundschaftliche Umgang mit dem damals sehr angesehenen Erfurter Mediziner Dr. Georg Sturtz, der unter anderem auch Luther und Melanchthon zu seinen Patienten zählte. Denn der Humanist gewährte seinem in der Kunst des Rechnens beschlagenen Freund regelmäßigen Zugang zu seiner umfangreichen Bibliothek, die auch seltene Rechenwerke enthielt. Mehr noch – Sturtz war offenbar auch derjenige, der Ries dazu ermunterte, Rechenbücher zu verfassen, die für jedermann verständlich und damit ebenso dem allgemeinen Volk zugänglich sind. In einem seiner späteren Werke, welches er dem Erfurter Freund widmete, hielt er diesbezüglich fest, dass dieser ihm mit den Worten „vleyß fur zu wenden, etwas dem gemeynen man nutzlich in trugk zu gebenn“ letzthin sein Lebensziel gesteckt hatte. Ries kam der Aufforderung gern nach: Noch im Jahr seiner Ankunft in Erfurt veröffentlichte der Rechenmeister sein erstes Rechenbuch „Rechnung auff der linihen“, das er auf Grundlage seiner Lehrerfahrungen zusammenstellte und welches fortan auch in seinem Rechenunterricht zum Einsatz kam.
Der Titel des Buchs verweist auf die bis Anfang des 16. Jahrhunderts meistverbreitete Rechenmethode: das aus der römisch-griechischen Antike entlehnte Hantieren mit sogenannten Rechenpfennigen, die ähnlich wie die Kugeln eines Abakuses auf einem mit Linien versehenen Brett hin- und hergeschoben und dann entsprechend ihres Zählwertes addiert oder subtrahiert wurden. Auf der untersten Linie fanden hierbei die Einer ihren Platz, auf der nächsthöheren die Zehner, darüber wiederum die Hunderter und Tausender. Pfennige, die zwischen die Linien gelegt wurden, symbolisierten jeweils Fünfer, Fünfziger und Fünfhunderter. Durch sinngemäßes Verschieben und Aufheben der Rechenpfennige konnte nach vollendeter Rechenoperation das Fazit einfach vom Brett abgelesen werden.
Was dieses erste Buch von Adam Ries besonders machte, war weniger die Einfachheit dieser Rechenmethode, sondern die Sprache, in der er diese dem Leser näherbrachte: Es war auf Deutsch verfasst – kein absolutes Novum, aber doch eine Seltenheit. Ihrem eigenen Stand und Dünkel entsprechend verfassten die meisten Gelehrten ihre geistigen Ergüsse zu dieser Zeit noch auf Latein und gewährten damit nur jenen Zugang zu ihrem ‚Wissensschatz‘, die der ’Gelehrtensprache’ mächtig waren. Nicht so Ries. Er legte Wert darauf, dass sein Buch von allen im Volke gelesen, verstanden und nachvollzogen werden konnte – also tatsächlich ein richtiges ‘Lehrbuch‘ war. Angesichts des sich zur gleichen Zeit ausbreitenden mechanischen Buchdrucks hat das auch ganz gut funktioniert.
Jahrhundert-Bestseller
Vier Jahre nach dem ersten erschien Rieses zweites Rechenbuch – „Rechenung auff der linihen und federn“. Wie sein Erstlingswerk ließ er dieses bei Mathes Maler, dem zur Zeit der Reformation wohl berühmtesten Drucker Erfurts, im Haus „Zum Schwarzen Horn“ in der Michaelisgasse anfertigen. Während das erste Rechenbuch „Rechnung auff der linihen“ mit seinem einfachen Linienrechnen für reine Rechenanfänger gedacht war, richtete sich dieses Nachfolgewerk an all jene ’Rechenkünstler’, die bereits mit dem Rechenbrett umgehen konnten und nun willens waren, sich nach Ries’scher Anleitung auch dem schriftlichen Rechnen („auf den Federn“) mit dem ’neuartigen’ Zehnersystem zu stellen. Im Grunde beinhaltete dieses nichts anderes als das Rechnen mit indischen Ziffern in einem Dezimalsystem – genau so wie wir sie heute ganz selbstverständlich anwenden.
Anno 1520 war dies bei weitem noch keine natürliche Gegebenheit: Die meisten Zeitgenossen von Adam Ries rechneten noch mit römischen Buchstabenwerten – also M, D, C, L, X, V und I – die sich zum schriftlichen Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren eigentlich überhaupt nicht eigneten. Über arabische Gelehrte war das wesentlich fortschrittlichere indische Dezimalzahlensystem zwar schon im Mittelalter nach Europa eingeführt worden, hatte sich in deutschen Breiten allerdings bislang nicht durchsetzen können. Maßgeblichen Anteil daran trug die abendländische Kirche, die den ’exotischen’ Ziffern skeptisch gegenüber stand – die 0 gar als Zahl des Teufels betrachtete.
Adam Ries war zu sehr Mathematiker, um sich von einer derartig religiösen Zahlengläubigkeit beeinflussen zu lassen. Für ihn lagen die Vorteile dieses alternativen Zahlensystems klar auf der Hand. Jeder Zehnjährige würde es problemlos schaffen, 52 mit 78 zu multiplizieren, wenn er die neuen aus Indien ’importierten’ Ziffern und nicht die sperrigen römischen Buchstabenzahlen anwandte.
Wie sich schnell herausstellen sollte, lag er mit dieser Einschätzung absolut richtig: Nicht nur in seiner eigenen Rechenschule, sondern überall in Deutschland fand sein Rechenbuch „Rechenung auff der linihen und federn“ innerhalb kürzester Zeit größten Zuspruch. Allerorten erkannte man: In puncto Form, Inhalt und Erschließbarkeit war dies das beste Lehrwerk, um sich die Kunst des Rechnens anzueignen. Ries hatte selbstverständlich auch dieses Buch auf Deutsch verfasst, wie er selbst schrieb „alles auf das aller clerlichste und einfeltigste“ formuliert. Darüber hinaus unterfütterte er viele seiner Rechenanleitungen mit aus dem Alltag entlehnten Anwendungsbeispielen sowie kleinen Rechentricks, um die trockene Mathematik näher an die Lebenswirklichkeit des ‘einfachen Mannes‘ heranzurücken.
Nachforschungen zufolge erschienen allein zu Lebzeiten Rieses etwa 100 Auflagen dieses in breiten Volkskreisen beliebten Rechenbuchs – wobei eine jede etwa 1.000 bis 1.500 Exemplare umfasste. Bis 1650 folgten noch zahlreiche weitere Auflagen. Kein anderes Rechenwerk im gesamten 16. und 17. Jahrhundert erreichte nur annähernd einen so großen Leserkreis.
Mann der Zahlen
Wer nun allerdings glaubt, Ries sei dank seines Bestseller-Buchs zu einem wohlhabenden Mann geworden, irrt: Da es damals noch keinen Urheberschutz gab, konnte ein jeder, der an der Popularität des Buchs mitverdienen wollte, dieses nachdrucken. Erst im Jahre 1550 gelang es dem Rechenmeister, von Kaiser Karl V. ein Privileg zu erwirken, das den unerlaubten Nachdruck seines gerade neu erschienenen, dritten Rechenbuchs unter Strafe stellte.
Zu jenem Zeitpunkt lebte Adam Ries allerdings schon lange nicht mehr in Erfurt. 1522 oder 1523 hatte er die Thüringer Metropole wieder verlassen und war ins sächsische Annaberg gezogen, eines der wichtigsten Erz- und Silberbergbauzentren der Region. Hier gründete er eine zu guter Letzt zehn Köpfe umfassende Familie – und natürlich ebenfalls wieder eine Rechenschule. Um sein Einkommen abzusichern, übernahm er neben dem Rechenunterricht, der ein Leben lang seine große Leidenschaft bleiben sollte, allerdings auch noch verschiedene Tätigkeiten in der sächsischen Bergverwaltung. Im Auftrag seiner Landesherren überwachte er fortan die Abrechnungen der einzelnen Gruben, deren jeweiligen Erzerträge, die Lohnauszahlungen und die Münzprägung.
Aufgrund seines guten Rufs wurde er überdies wiederholt mit Sonderaufträgen betraut. So bat ihn beispielsweise der Rat der Stadt Annaberg im Jahr 1533, ein verbindliches Regelwerk aufzustellen, um die andauernden Querelen um die korrekte Bepreisung von Backwaren im Orte in den Griff zu bekommen: Zu Adam Ries‘ Zeiten war es vielerorts noch üblich, bei Teuerungen des Getreides nicht etwa den Brotpreis, sondern dessen Gewicht anzupassen. ‘Groschenbrote‘ und ‘Zweigroschenbrote‘ gab es ebenso zum Festpreis wie ‘Pfennigsemmeln‘. Je nachdem wie teuer das Getreide gerade war, formten die Bäcker dann entsprechend kleinere oder größere Brote und Brötchen. Um zu verhindern, dass diese über eine gerechtfertigtes Maß hinaus ’zu klein’ ausfielen, erstellte Ries ein umfangreiches Tabellenwerk, das exakte Vorgaben für etwaige Schwankungen in Preis und Gewicht vorgab – eine Brotordnung. Alles, damit – wie Ries im Vorwort der Brotordnung schrieb, „der arme gemeine man ym Brotkauff nicht übersetzt [also betrogen] würde“. Ähnliche Tabellenwerke erstellte der Rechenmeister später auch für Zwickau, Joachimsthal, Hof und Leipzig.
Lebensziel erreicht
Was sein Lebensziel betraf, dürfte Adam Ries 1559 als zufriedener Mann gestorben sein: Obgleich seine beliebten Lehrbücher vielfach ohne seine Zustimmung gedruckt und verbreitet wurden, hatte er mit diesen etwas Revolutionäres vollbracht: dem einfachen Volk das Rechnen zugänglich gemacht. Die unglaubliche Popularität, die der Rechenmeister bereits zu Lebzeiten gewann, legt die Vermutung nahe, dass jener sprichwörtlich gewordene Ruf des Rechenmeisters („Das macht nach Adam Ries…“) bereits im 16. Jahrhundert geformt wurde – und bis zum heutigen Tage von jedem hervorgebracht wird, der die Richtigkeit seiner Rechnung betonen möchte.
Heute erinnern nicht nur Staffelstein und Annaberg an den ‘Vaters des Rechenunterrichts‘, sondern mit Erfurt auch jener Ort, an dem dieser seinerzeit den Grundstein für einen Jahrhunderte überdauernden Ruhm legte. Seit 2002 befindet sich in der Michaelisstraße 48 an der Fassade des Hauses „Zum schwarzen Horn“ eine von Michael Lenz geschaffene Porträtbüste Rieses nebst Schrifttafel mit Lebensdaten und historischen Erläuterungen sowie einer in den Boden eingelassenen Rechenbrett. Hier kann der Vorübergehende seine eigenen Rechenkünste unter Beweis stellen und sich selbst einmal am „Rechnen auf der Linie“ ausprobieren…