Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Begegnungen mit wilden Tieren und entlegenen Landschaften – Teil 1: Sylvain Tessons »Der Schneeleopard«

Reise in die Bergwelt Tibets

Sylvain Tesson: „Der Schneeleopard“
Rowohlt Verlag, 192 Seiten (geb.)

Sylvain Tesson, geboren 1972 in Paris, ist von Haus aus Geologe, mit dem Herzen ein Reisender, der mit dem Fahrrad um die Welt, zu Fuß durch den Himalaya und zu Pferd durch die Steppe Zentralasiens streifte, und mit der Seele ein reisender Dichter. Für seine zahlreichen Reisebeschreibungen und Essays wurde Tesson bereits mit dem höchsten französischen Literaturpreisen geehrt. Der jetzt bei Rowohlt veröffentlichten Band „Der Schneeleopard“, mit dem er 2019 zum meistgelesenen frankophonen Autor avancierte und in dem er überaus eindrücklich von einer Reise zu einem der seltensten Tiere der Welt im tibetischen Hochland erzählt, dürfte dem französischen Autor sicher auch hierzulande schnell eine breite Lesergemeinde verschaffen. Schlicht und einfach, weil man einen so intensiven, gedankenreichen Reisebericht, eine so intensiv literarisch-animalische Begegnung wie diese so schnell kein zweites Mal finden wird.

Ihren Anfang und Ursprung findet der Text in einer langjährigen Freundschaft, die Sylvain Tesson mit dem renommierten Tier- und Naturfotografen Vincent Munier verbindet. Dessen fotografische Vorliebe für die wilden Tiere entlegener Regionen war über viele Jahre hinweg vom Wunschtraum gekrönt, einmal Schneeleoparden in ihrer natürlichen Umgebung im tibetischen Hochland zu begegnen. Seinen Freund Sylvain Tesson musste Munier nicht zweimal fragen, dieser sagte sofort zu als er ihn fragte, ob er ihn dabei begleiten wolle, diesen Traum endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Wohlgemerkt: im Winter, in einer unwirtlichen Bergregion weit über 4.000 Meter Höhe, bei durchgängig minus zwanzig Grad und kälter – weil nur da und dann überhaupt die Chance bestünde, der überaus scheuen, sehr zurückgezogen lebenden, sehr selten gewordenen Raubtiere ansichtig zu werden.

Und was soll man sagen: Im Wissen um die Existenz von Fotografien, die es Munier tatsächlich gelingt, vom Schneeleoparden, aber auch von den zahlreichen anderen wilden Tieren zu machen, welche die tibetische Hochebene bewohnen (u.a. Wildyaks, Wildesel, Blauschafe, Antilopen, Wölfe und Geier) wünscht man sich beim Lesen dieser Reiseerzählung natürlich sofort, es wären dem Buch wenigstens eins, zwei Bilder beigefügt. Andererseits braucht das „Der Schneeleopard“ nicht wirklich. Denn was Sylvain Tesson hier in Worte fasst und in Erzählstoff verwandelt, ist so ausdrucks- bzw. gedankenstark, so im Fluss und wie aus einem Guss, dass man schon bei den ersten Absätzen für sich feststellen kann, dieses Buch möchte man besser langsam lesen, um den Genuss, den Tesson einem hier bereitet, nicht zu schnell vergehen zu lassen…

Abenteuergeschichte und Ode an die Demut

Es ist an erster Stelle sicher auch die eindrucksvolle Beschreibung, wie die kleine Reisegruppe immer tiefer in die entlegene, nahezu völlig unbewohnte Bergregion vordringt, die groß genug wäre, um Frankreich ohne weiteres aufzunehmen; ebenso überaus eindrucksvoll, wie sie nur mit dem, was sie tragen können, immer tiefer in Gletschertäler und von Felswänden umgebene Schluchten vordringen; wie sie dann – alleinig getrieben von dem Wunsch der Begegnung mit dem Leoparden –für mehrere Tage am Stück in eisiger Kälte tatsächlich wie festgefroren, auf jeden Fall aber reglos auf der Lauer liegen und Entbehrungen auf sich nehmen, die einem schon beim Lesen frösteln lassen. Nicht, um zu jagen, sondern um mit absoluter Hingabe zu sehen, zu spüren, zu erfahren – voller Respekt und demütiger Zurückhaltung. In diesem Sinne sind es daher eben auch die vielen stillen, feinsinnig gesponnenen Gedanken und Gedankenbilder (etwa zur Anmut und zum Wesen einer noch nicht vom Menschen vereinnahmten Natur), die Tesson wartend, lauernd und ausharrend, den Frostschmerz ausblendend nebenher für sich, für uns notiert, die in Erinnerung bleiben wie Fotografien und das Buch zu einer unmittelbaren Leseerfahrung mit naturphilosophischen und nachgerade meditativem Charakter erwachsen lassen können.

„Der Schneeleopard“ ist genauso Abenteuergeschichte wie eine Geschichte der Demut, eine Ode auf das Wilde und die ursprüngliche Wildnis – kurzum, ohne Zweifel ein Titel, den man sich bedenkenlos auf die eigene Leseliste setzen darf. Ebenfalls bereits erschienen ist übrigens der zugehörige Bildband mit 200 Fotografien von Vincent Munier und poetischen Begleittexten Sylvain Tesson – und unter dem Titel „Zwischen Fels und Eis“ im Knesebeck Verlag zu erstöbern.