Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Andri Snær Magnason: »Wasser und Zeit« und »Lovestar«

Ein Isländer befasst sich mit der Zukunft

So thematisch breit wie Andri Snær Magnason muss man erst einmal aufgestellt sein: Der 47-jährige Isländer hat sich in seiner bisherigen Berufslaufbahn bereits als Regisseur, Umweltaktivist und viel gefragter Zukunftsvisionär hervorgetan, 2016 zudem als Kandidat für die isländische Präsidentschaftswahl aufstellen lassen und ist darüber hinaus – vielleicht auch an erster Stelle – auch noch als Dichter und Schriftsteller tätig. Und selbst da präsentiert er sich höchst wandelbar, verfasst heute Gedichte oder ein Kinderbuch, morgen einen satirischen Gesellschaftsroman und tags drauf ein wissenschaftlich fundiertes Sachbuch, oder auch gleich zwei – die, und das ist dann schon ein stückweit bemerkenswert, zu guter Letzt auch noch ‘funktionieren‘ und überzeugen, den ausführlichen Blick ins Buch sowie so manch ihm mittlerweile überreichten Literaturpreis wert sind.

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Insel Verlag, 304 Seiten (geb.)

Auf dem deutschen Buchmarkt sind in diesem Jahr zwei seiner Bücher veröffentlicht worden, die bis auf das gemeinsame Setting – Island in der Zukunft – unterschiedlicher kaum sein können: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“, eine philosophisch anmutende, sehr persönliche Betrachtung der klimatischen Veränderungen, die unser Leben in immer stärkeren Maße beeinflussen und „Lovestar“, eine überbordend-fantasievolle, Erinnerungen an George Orwell oder Douglas Adams wachrufende Gesellschaftssatire.

Sorge um die Zukunft

Andri Snær Magnason muss nicht in die Karibik reisen, um die Auswirkungen des Klimawandels zu sehen: 2014 verlor Island aufgrund der Erderwärmung mit dem Okjökull seinen ersten Gletscher, viele der aktuell noch 400 Gletscher sind auf einem ähnlichen Kurs und werden ebenfalls schmelzen. „Und all dies wird sich während der Lebenszeit eines Kindes abspielen, das heute auf die Welt kommt und wie meine Großmutter 95 Jahre alt wird“, weiß Magnason in „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“ zu berichten. „In den nächsten hundert Jahren wird sich das Leben auf der Erde grundlegend ändern. Gletscher werden schmelzen, der Meeresspiegel wird steigen, und der Säuregrad der Ozeane wird stärker zunehmen als in den letzten 50 Millionen Jahren. Diese Veränderungen beeinflussen das gesamte Leben – aller Menschen, die wir kennen, und aller Menschen, die wir lieben. Sie sind komplizierter als die meisten Dinge, mit denen wir uns normalerweise beschäftigen, größer als unsere gesamte bisherige Erfahrung, größer als die Sprache. Welche Wörter können ein Thema von dieser Größenordnung fassen?“

Der Isländer hat die Wörter schnell ausgemacht, die uns allen mittlerweile durchaus geläufig sind, aber aufgrund ihrer reinen Begrifflichkeit zu vage, zu wenig dringlich und fassbar bleiben – „Gletscherschmelze“, „Rekordhitze“, „Treibhauseffekt“, „Versauerung der Meere“ – und hat sie, um sie greif- bzw. unmittelbarer zu machen, stattdessen mit Geschichten seiner eigenen Verwandten, mit alten isländischen Mythen, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit auf persönlichen Begegnungen beruhenden Gesprächen mit dem Dalai Lama besetzt. Entstanden ist so ein einzigartiger, zutiefst persönlicher Appell Magnasons, unterhaltsam, berührend und mitreißend in seiner Präsentation, weitsichtig in seiner philosophischen Tiefe, hintergründig in seiner wissenschaftlichen Expertise. Gleichermaßen an die Politik wie an jeden Einzelnen von uns gerichtet, lässt „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“ weit über den vielleicht geplanten nächsten Island-Urlaub hinaus eines sehr deutlich zutage treten: Es ist tatsächlich höchste Zeit, zu handeln – wirklich zu handeln.

Segen der Zukunft

Andri Snær Magnason: „Lovestar“, Eichborn, 304 Seiten (Broschur)

Zum Handeln veranlasst sehen sich auch SigrÍður und Indriði in Andri Snær Magnasons ursprünglich 2002 erschienenen, bislang einzigen Roman „Lovestar“, der jetzt im Eichborn Verlag wiederveröffentlicht wurde. Denn in der zukünftigen Welt, in der dieses isländische Paar lebt, ist der Segen der Technik längst auch zum Fluch geworden: Mithilfe sogenannter Vogelwellen, die der geniale Wissenschaftler LoveStar mit einem speziellen, von ihm erfundenen Gerät zu kontrollieren vermag, lassen sich nicht nur problemlos Computer und andere Geräte vollumfassend aus der Ferne steuern, sondern – willkommener Nebeneffekt – auch Menschen: Werbung lässt sich mittels Vogelstrahlen zielgerichtet und direkt ins Bewusstsein der Konsumenten einpflanzen, Träume lassen sich auslesen, einem jeden Menschen der perfekte Partner bzw. die perfekte Partnerin zuweisen. Wie bequem und angenehm. Die Erfindung verleihen dem Erfinder und seinem gleichnamigen Unternehmen quasi über Nacht die Möglichkeit zur alleinige Weltherrschaft: Jede Kommunikation, alle Werbung, die gesamte Wirtschaft, alles unterliegt fortan der Steuerung von LoveStar – der, welch Wunder, weder Konkurrenz noch Widerspruch duldet. Doch ein junges Paar, SigrÍður und Indriði, die sich noch auf herkömmliche Weise ganz ohne Vogelstrahlen-Algorithmus ineinander verliebt haben, nun jedoch ‘auseinandergerechnet‘ werden, versucht sich der totalen Gleichschaltung zu widersetzen – um die eigene Liebe und ja, eigentlich auch die ganze Welt zu retten. Ganz klar, dass solch eine Geschichte in einem wüst-spektakulären Showdown enden muss…

Auch wenn es der Name des Buchs irgendwie suggerieren mag (Vogelwellen?): „Lovestar“ ist kein Trashroman – vielmehr eine ziemlich gelungene, vor einigen Jahren sogar für den renommierten Philip. K. Dick Award nominierte, tiefsinnige Gesellschaftsatire, die sich in ihrer dystopischen Vision im Bücherregal einerseits perfekt neben George Orwell, in der irre-überbordenden Zuspitzung der Handlung andererseits perfekt neben Douglas Adams einordnen lässt – erstaunlicherweise aber auch neben „Wasser und Zeit“ eine gute Figur macht und ihren Autor Andri Snær Magnason so insgesamt einfach gut dastehen lässt. Doppelter Lesetipp.