Teil 1: Vom Aufbrechen und Ankommen
Getrieben vom Wunsch nach Selbstverwirklichung treibt es den gebürtigen Mühlhäuser Johann August Röbling anno 1831 in die Neue Welt. Nach einem eher holperigen Anfang findet er schließlich seinen Platz: als Drahtseilpionier und Großbrücken-Konstrukteur. Eine Thüringer Auswanderergeschichte.
Die Wehmut, die er beim Abschied aus der Heimat empfand, hielt sich in Grenzen. »Heute reisten wir von Mühlhausen ab«, schreibt Johann August Röbling am 11. Mai 1831 in sein Tagebuch, »nahmen Abschied von den Freunden, Verwandten und Bekannten und sagten der heimathlichen Flur Lebewohl, in der Hoffnung, uns in dem westlichen Continente, jenseits des atlantischen Meeres, eine neue Heimat zu gründen, ein neues Vaterland, welches wirklich väterlich handelt.« — Nein, der 25-jährige Mühlhäuser war mit seinem Dasein im »Vaterland« — zu diesem Zeitpunkt ein loser Verbund deutscher Einzelstaaten, das in einem Zustand politischer Knebelung und allgemeiner gesellschaftlicher Repression gefangen schien — so unzufrieden, dass er wie viele andere auch in diesem Land für sich keinerlei Zukunft mehr sah.
Gemeinsam mit seinem wenige Jahre älteren Bruder Karl und gut 40 weiteren Mühlhäusern schloss er sich einer gut 200 Köpfe zählenden Gruppe von Auswanderungswilligen an, die sich ausgehend von Bremen und verteilt auf zwei Schiffe auf den Weg in die ›Neue Welt‹ machten — und damit zum Teil einer Auswanderungswelle wurden, die in den Folgejahren stetig anwachsen und nach der gescheiterten Revolution von 1848 sogar noch um ein Vielfaches in die Höhe schnellen würde. Insgesamt 5,5 Millionen Deutsche sollten letztlich in den Jahren zwischen 1820 und 1920 ihrer Heimat den Rücken kehren, um ihr Glück auf der anderen Seite des Ozeans zu versuchen.
Allen gemein war die Hoffnung, dort, in jenem verheißungsvollen Land der unbegrenzten Möglichkeiten, einen Neuanfang wagen, sich mit Müh’ und Fleiß eine neue Existenz aufbauen, vielleicht sogar für einen günstigen Preis ein eigenes Stück fruchtbares Land erwerben zu können. Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitreisenden, die für ihren ›Neustart‹ ihr letztes Hab und Gut in der Heimat versetzt haben, reisen die beiden Röbling-Brüder allerdings mit einem gut gefüllten Scheckbuch voller Erspartem und dem ihnen vorab ausgezahlten elterlichen Erbteil als Startkapital in die Neue Welt. Ihr Plan ist es, zusammen mit bereits vorgereisten Freunden aus Darmstadt zunächst irgendwo im Osten des Landes eine eigene deutsche Kolonie zu gründen und sich mit Landwirtschaft und Viehzucht die Grundlagen für die weitere Zukunft zu schaffen. Selbstbestimmt und ja, vor allem frei von den »vielen hemmenden Einschränkungen und Hindernissen, welche sich jedem Unternehmen in Teutschland von Seiten der bangen Regierung und des zahllosen Beamtenheeres entgegenstellen«, wie Johann August Röbling mit leicht zu erkennendem Verdruss seinem Tagebuch anvertraut. Für ihn, den Auswanderer aus Thüringen, gibt es überdies noch einen weiteren, wenn auch fürs Erste zurückgestellten Beweggrund, auf jene ›unbegrenzten Möglichkeiten‹ zu setzen, für die die Vereinigten Staaten seit eh und je stehen: Röbling hofft, sich hier endlich als der talentierte und gut ausgebildete, von Ideen und Visionen erfüllte Ingenieur, der er ist, behaupten zu können.
Rüstzeug und Ausbildung
Als er 25 Jahre zuvor, im Juni 1806, als das jüngste von vier Geschwistern das Licht der Welt erblickt, dürfte Johann August Röbling der Gedanke an den beruflichen Werdegang allerdings noch genauso fern gewesen sein wie der Entschluss, nach Amerika auszuwandern. In eine Zeit fortwährender Unruhe hineingeboren, die von militärischen Auseinandersetzungen, Besetzung, Truppendurchzügen und Einquartierungen geprägt ist und auch um seine Heimatstadt Mühlhausen keinen Bogen macht, hat er das Glück, in den soliden und gut gesicherten Verhältnissen einer Tabakzüchterfamilie aufzuwachsen. Während sein Vater, dem man nachsagt, dass er nie mehr an einem Tag zu tun pflegt als unbedingt nötig und als Tabakhändler sein bester Kunde ist, seine Aufgabe eher darin sieht, seine Kindern allabendlich mit frei erfundenen Geschichten zu unterhalten, in denen er von ›eigenen‹ Reisen in die entlegensten Regionen der Welt berichtet, sorgt die Mutter dafür, dass ihre Kinder das passende charakterliche Rüstzeug für die Zukunft und natürlich auch eine Ausbildung zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts erhalten. Vor allem ihrem Jüngsten, Johann August, will die ehrgeizige Frau zu beruflichem Erfolg verhelfen.
Als sich abzeichnet, dass der Junge sich zwar in Mathe und Physik durch eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe hervortut, in Fächern wie Latein und Religion hingegen ganz und gar nicht glänzt, nimmt sie den 15-jährigen kurzerhand vom Mühlhäuser Gymnasium und schickt ihn stattdessen nach Erfurt ins »Ungersche Institut«. Die private ›Spezialschule‹ des Mathematikers Ephraim Salomon Unger ist seinerzeit weit über Thüringen hinaus bekannt und zieht Matheenthusiasten aus allen Landesteilen an.
Mutter Röblings Investition in ihren Sohn — 100 Thaler Schulgeld pro Jahr — soll sich bald auszahlen: Johann August erhält bei Unger über zwei Jahre hinweg eine exzellente Ausbildung in Algebra und Geometrie, die ihm den Weg zum anschließenden, 1824 angetretenen Studium an der Berliner Bauakademie ebnet. Zwei Semester Theoriestudium und dann noch eins-zwei Jahre zugehöriger Praxisteil: Der angestrebte Baumeistertitel scheint dem ehrgeizigen jungen Mann in Griffweite — und doch wird er ihn nie erringen.
Frustrierende Erkenntnis
Mit etwas Glück erhält er für die Erfüllung seines Praxisteils eine Anstellung als ›Baukondukteur‹. Im Auftrag der preußischen Seehandlung, die landesweit den Neubau von 1.000 Kilometern Chaussee-Straße plant, projektiert und überwacht er im westfälischen Regierungsbezirk Arnsberg ab 1825 den Ausbau der Handelsstraßen — und lernt in den nachfolgenden Jahren den schwerfälligen preußischen Verwaltungsapparat kennen, der ihn, den kleinen aufstrebenden Angestellten fortwährend in seinem Bemühungen ausbremst und bürokratische Steine in den Weg legt.
Ob es letztlich tatsächlich ein konkretes Ereignis dafür gab, dass der beinahe 25-jährige Fast-Ingenieur im Frühjahr 1831, eigentlich unmittelbar vor Abschluss seines ersehnten Baumeisterexamens, den Beschluss fasst, alle Zelte in der alten Heimat abzubrechen und stattdessen in Übersee eine neue zu suchen, ist nicht überliefert. Anlass und Grundlage dürfte jedoch jene mehrjährige Erfahrung bürokratischer Ernüchterung während seiner Zeit als Baukondukteur im Westfälischen geliefert haben — gepaart mit einer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend aufgeladenen, zunehmend unerträglichen gesellschaftspolitischen Atmosphäre, die nahezu jegliche individuelle Entfaltung unmöglich zu machen schien. Insbesondere nach der Juli-Revolution von 1830 im benachbarten Frankreich ging bei der preußischen Obrigkeit die Angst um, der Geist der Revolution könnte über den Rhein schwappen und das eigene Volk infizieren. Entsprechend angespannt verlief das öffentliche Leben: Zensur, Bespitzelung, willkürliche Inhaftierungen und diverse weitere Repressalien standen an der Tagesordnung. Verständlich, dass Röbling und sein Bruder Karl schließlich wie viele andere auch den Gedanken einer Auswanderung ins Auge fassen — und auch umsetzen.
Kolonistenträume
Doch der Neustart in Amerika verläuft von Anfang an anders als geplant. Zwar erreichen die Auswanderer ohne nennenswerten Zwischenfall nach gut zweieinhalb Monaten die andere Seite des Ozeans, jedoch erweist sich die ursprüngliche gefasste Idee eines gemeinsamen Siedlungsprojekts bereits bei ihrer Ankunft in Philadelphia als unbrauchbar: Der Darmstädter Teil der Aussiedlergesellschaft, die auf einem anderen Schiff schon früher angekommen sind, hat sich, ohne auf die Mühlhäuser Gruppe um Röbling zu warten, bereits in den Süden aufgemacht. Und dessen eigene Gruppe an Kolonisten ist mittlerweile so zerstritten, dass von der am Anfang gut 200 Köpfe zählenden Siedlerschar in Philadelphia lediglich noch eine Handvoll übrig ist, die seine Kolonie-Idee weiterhin unterstützen.
Getreu dem von ihm zu Papier gebrachten Motto »Wenn man ernstlich will, läßt sich alles bewirken«, lässt Johann August Röbling sich davon jedoch nicht entmutigen und erwirbt in der Nähe von Pittsburgh ein Stück urbares Land, um darauf seine später »Saxonburg« genannte deutsche Kolonie zu begründen. Und dennoch will sich kein Licht am Horizont zeigen: Die Jahre des Aufbaus sind von steter Mühsal und einer Vielzahl Rückschlägen geprägt und lassen die Vision einer erblühenden Kolonie immer wieder in Ferne rücken. Lange bemüht sich der Kolonievater um eine Besserung der Situation. Als sich nach sechs Jahren — Roebling ist mittlerweile 31 Jahre alt, hat eine Familie gegründet und schreibt sich amerikanischer Staatsbürger fortan mit »oe« — immer noch nicht abzeichnet, dass »Saxonburg« in absehbarer Zeit einen wirtschaftlicher Aufschwung erleben könnte, beschließt der junge Vater, sich außerhalb der Kolonie eine Anstellung als Ingenieur zu suchen. Zunächst ohne Erfolg — dann mit Engagements, die eher Gelegenheitsjobs ähneln. Niemand scheint wirklich auf den gut ausgebildeten Einwanderer zu warten. Auch all jene verschiedene technologischen Erfindungen, die Roebling sich ›nebenher‹ einfallen und patentieren lässt — etwa einen Funkenfänger für Lokomotiven, verschiedene Sicherheitsventile oder auch einen Pflug — finden nirgends Anklang oder Interesse.
Vermessungsarbeiten
Erst durch die zufällige Begegnung mit einem alten Klassenkameraden aus Ungers Erfurter Mathe-Spezialschule, den es als Auswanderer ebenfalls nach Pennsylvania verschlagen hat, kommt Roebling 1939 an eine Festanstellung — die den Anfangspunkt einer nun doch noch phänomenal verlaufenden Karriere markieren sollte. Als Ingenieur eines Vermessungsteams, welches der Aufgabe nachgeht, die beste Route für eine Eisenbahnverbindung zwischen Pittsburgh und Harrisburg, der Hauptstadt des Bundesstaates, zu ermitteln, reist Roebling wiederholt auch entlang der erst wenige Jahre alten staatlichen Allegheny Portage Railroad, die seinerzeit als Wunder der Ingenieurskunst gepriesen wird. Um die Transportzeiten von Handelsgütern zwischen dem Mittleren Westen und der Ostküste zu reduzieren, hatte man den verkehrswichtigen Pennsylvania-Kanal mit jener ›Abkürzung‹ bereichert: Zur Überwindung des sonst umschifften Allegheny-Gebirges wurden sämtliche Flussboote und Last-kähne auf einer Länge von etwa 58 Kilometern mittels Portage-Eisenbahnen über verschiedene schiefe Ebenen im wahrsten Sinne des Wortes den Berg hinaufgezogen und dann auf der anderen Seite wieder herabgelassen. Das ›technologische Wunder‹ verkürzte die Transportzeiten vom Ohio River nach Philadelphia tatsächlich erheblich — statt mehrerer Wochen war man nun nur noch drei bis fünf Tage unterwegs. Es hatte jedoch ein großes Manko: Aufgrund der enormen Betriebs- und Wartungskosten erwies es sich als höchst unrentabel. Insbesondere die an den Schrägseilbahnen verwendeten Seilläufe aus Hanf ließen sich als kostenstarke Schwachstelle ausmachen. Hanf mag zwar eine robuste Faser sein, fürs ganzjährige Portieren von Schiffen über ein Gebirge ist es jedoch nicht geeignet.
Drahtseilpionier
Roebling, der Tüftler erkennt diese Schwachstelle und sieht seine Stunde gekommen: Was wäre, wenn anstelle des verschleißanfälligen Hanftaus ein in ähnlicher Weise aus Drähten geflochtenes Seil zum Einsatz käme? Wie sich schnell zeigt, ist die Idee tatsächlich Gold wert. Was im Harzer Silberbergbau in Roeblings alter Heimat schon seit längerem zum Einsatz kommt, wird hier Anfang der 1840er Jahre zu einem Novum, auf das ganz Amerika nur gewartet zu haben scheint. Nicht nur die Betreiber der Portage Railroad sind begeistert von dem neuartigen, verrottungsfreien, überaus stabilen Seil, in dem sieben jeweils aus 19 Schmiededrähten bestehende Stränge helixförmig miteinander verflochten und verspleißt sind — bald kann sich Roebling vor Aufträgen kaum noch retten, mit dem andere Kanal- und Transportgesellschaften ihn betrauen.
Die ersten Jahre flicht er die oftmals mehrere Hundert Meter langen Drahtseile noch mehr oder weniger ›händisch‹ auf der Wiese hinter seiner Farm, doch irgendwann ist das Auftragsbuch so voll, dass die Drahtseilproduktion in eine Fabrik verlagert werden muss. 1849 errichtet er in Trenton, New Jersey ein Drahtseilwerk, das binnen zweier Jahrzehnte nicht nur die Ausmaße einer Kleinstadt gewinnt, sondern auch zu einem weltweit agierenden Unternehmen heranwächst — und seinen Gründer zu einem schwerreichen Mann macht.
Dieser indes sieht sich trotz allen wirtschaftlichen Erfolgs, den ihm seine Drahtseilproduktion — welche er übrigens fortlaufend weiterentwickelt — in der erblühenden Industrialisierung beschert, nach wie vor von Haus aus weniger als Unternehmer denn als geborener Konstrukteur und Ingenieur mit wahrhaft großen Ideen und Ambitionen. Denn längst hat Roebling eine weitere Möglichkeit ins Auge gefasst, seine patentierten Drahtseile über ihre Transportfunktion hinaus höchst innovativ zum Einsatz zu bringen: beim Großbrückenbau …