Gerhart Hauptmann das ist aus heutiger Sicht ohne Zweifel Hiddensee, wo er begraben liegt und Agnetendorf, wo er seinen Lebensabend verbrachte, ein wenig auch Berlin, wo der Dramatiker und Schriftsteller ersten Erfolg einheimste. Aber Gerhart Hauptmann und Jena? Insgesamt war es nicht einmal ein halbes Jahr, das der gebürtige Niederschlesier in der thüringischen Universitätsstadt weilte – und dennoch sollte jener Aufenthalt und vor allem der Ort selbst zentrale Bedeutung in seiner Biografie erlangen. 

Als Gerhart Hauptmann im Alter von 20 Jahren seine niederschlesische Heimat verließ und nach Thüringen kam, steckte er in einer ordentlichen Lebensabschnittskrise fest. Den Weg weiterzuverfolgen, den er bislang eingeschlagen hatte, wollte ihm nicht mehr so recht schmecken — vielmehr gärte es in ihm, ein neues, weiteres Mal auszuloten, wohin die ›Reise‹ für ihn denn nun wirklich gehen sollte. Denn gleichwohl der spätere Träger des Literaturnobelpreises bereits als Kind durch profunde Fabulierfreudigkeit auffiel, war Hauptmann keineswegs einer jener frühberufenen Literaten, die bereits Kindheit und Jugend dichtend oder doch zumindest fortwährend tief in Büchern vergraben verbrachten und dabei stets genau vor Augen hatten, welchen Lebensweg sie einmal einschlagen würden — eben den eines Dichters und Schriftstellers. Nein, Gerhart Hauptmann war als Knabe vor allem eines: von zarter Konstitution, in der Folge häufig krank und wenig in der Breslauer Realschule, die er seit 1874 besuchte und die ihm mit ihrer preußisch geprägten Vorstellung von Strenge und Gehorsam sowieso zunehmend zuwider war. Er sehnte sich nach den Kindheitstagen zurück, in denen er unbeschwert und frei aller Zwänge in der Umgebung des Hotels, welches seine Eltern im heimatlichen Ober Salzbrunn führten, hatte herumstromern können. Um einiges wohler fühlte er sich daher auch in einem ›Jünglingsbund‹, in dem er die meiste seiner freier Zeit verbrachte. Jener hatte sich ganz und gar dem Leitsatz »Zurück zur Natur!« verschrieben und suchte sich darüber hinaus mit allerlei freigeistigem Denken, gepflegter Nacktkultur und utopischen Gesellschaftsideen von den Zwängen und Vorurteilen der wilhelminischen Gegenwart zu befreien. Auch wenn dieser Vereinigung keine allzu lange Existenz beschieden war, war dem jungen Gerhart Hauptmann hier ein Bodensatz an Erfahrungen beschieden, die ihn ein Leben lang prägen sollte. 

Der Dramatiker und Schriftsteller Gerhart Hauptmann (1862 — 1946) in einem Porträt von Lovis Corinth aus dem Jahre 1900 — zwölf Jahre später wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen (xeno.org)

Mehr oder weniger unmittelbare Folge: Unwillig, seine Zeit noch länger in der Schule zu ›vergeuden‹, erklärte er deren Besuch im Frühjahr 1878, noch nicht ganz 16-jährig, für beendet und wandte sich stattdessen der Landwirtschaft zu. Die Arbeit, der er dort als Lehrling nachging, erwies sich zwar in der Tat so ›dicht an der Natur‹ wie nur irgend möglich, nur war der schmächtige Knabe den körperlichen Anstrengungen auf Dauer überhaupt nicht gewachsen: Nach anderthalb Jahren Lehrzeit hatte er ein so schlimmes Lungenleiden entwickelt, dass er sich gezwungen sah, umgehend umzusatteln, wollte er nicht Gefahr laufen, zugrunde zu gehen. Seine Wahl fiel auf den Beruf des Bildhauers — vielleicht, weil man auch da einzelnen Elementen der Natur recht nah kommt. Hoch motiviert nahm er 1880 eine entsprechende Ausbildung an der Königlichen Kunst- und Gewerbeschule in Breslau auf, nur wollte es ihm auch nach zwei Jahren partout nicht gelingen, das erhoffte künstlerische Talent für den Beruf in sich freizulegen. Gerhart Hauptmann spürte, dass er seinen Weg erneut würde ändern müssen.

Jena als Jungbrunnen

Sein Bruder Carl ist es, der ihm im Herbst 1882, in der ersten Phase des Schwankens und neuerlichen Suchens, hilfreich den Weg weist, wohin die Reise als nächstes gehen könnte. Vier Jahre älter als Gerhart und seit 1880 Student der Naturwissenschaften in Jena, schlägt dieser dem kleinen Bruder vor, es doch einmal mit einem kompletten Ortswechsel zu versuchen und zu ihm nach Thüringen zu kommen. An der Jenaer Universität, die in jenen Tagen dank überregional gefeierter Geistesgrößen wie Rudolf Eucken und Ernst Haeckel gerade eine zweite große Blütezeit nach der ›goldenen‹ Zeit der Klassik erlebte, würde er in jedem Fall seinen Horizont erweitern und zu neuen Perspektiven gelangen können. Gerhart nimmt die Einladung bereitwillig an und wird Student in Jena — wohlgemerkt ohne Nachweis jeglichen Reifezeugnisses. Die Schule hat er ja aus freien Stücken vorzeitig verlassen. Dank eines Empfehlungsschreibens seiner Breslauer Kunstschule wird ihm jedoch eine Sondererlaubnis erteilt, so dass der Noch-Bildhauer sich für das Wintersemester 1882/83 an der Universität der Saalestadt einschreiben darf. 

Es sei an dieser Stelle gleich vorweggenommen: Gerhart Hauptmann beschreitet auch diesen Weg nur kurz, sehr kurz. Bereits nach einem Semester beendet er Studium und Aufenthalt in der Saalestadt wieder. Dennoch scheint dieser kleine Zwischenschritt nach Jena, der im November 1882 seinen Anfang findet, eine geradezu mirakulöse Wirkung auf den jungen Niederschlesier ausgeübt zu haben: »Zuerst empfand ich etwas wie die Wirkung eines Jungbrunnens«, schreibt Hauptmann in seiner Autobiografie »Das Abenteuer meiner Jugend« und gerät in der Erinnerung an diese Jenaer Zeit noch Jahrzehnte später ins Schwelgen. »In ungeahnter Weise erneut und verjüngt, merkte ich, wie alt und beschwert, ja gleichsam verholzt ich in Schlesien gewesen war. Hier umgab mich ein Licht, eine Luft, die das Atmen leicht, das Dasein froh machte. Ich war erstaunt, daß es einen Ort wie Jena gab, und bedauerte, so lange in ein finster-rauhes Klima des Geistes und Gemütes verstoßen gewesen zu sein. Ich war verwundert, wie sich äußere Enge, warmes Wohlbehagen und geistige Weite hier zu schöner Harmonie verbunden hatten, und fühlte sogleich ihre lind umfangenden Wirkungen. […] Hier erst konnte ich auf höherer Ebene an die Unschuldstage meiner Knabenseele wieder anknüpfen: wie ein zweiter langer, ununterbrochener Lebensmorgen kam es über mich.« 

Jena als Saale-Athen

Ja, das kleine Universitätsstädtchen im Herzen Thüringens hat es dem jungen Gerhart Hauptmann ganz offensichtlich über alle Maßen angetan. »[V]on einem zuinnerst lachenden Jugendglück überwältigt«, stürzt sich der 20-jährige in das ihm in dieser Form noch unbekannte Universitätsleben, das ihm gleich einem unerwarteten Geschenk die Möglichkeit eröffnet, in eine Welt des Wissens bzw. der Wissenschaft einzutauchen, in der er sich vom Fleck weg wohl fühlt. Immatrikuliert für Philosophie und Literaturgeschichte besucht er verschiedene Geschichtsvorlesungen, erlebt die Lesung des Philosophen Rudolf Euckens zu den bedeutendsten Denkern der Vergangenheit als einen »verwirrenden Sturm«, geht in einer schier grenzenlosen Begeisterung für das Themenfeld Antike auf und saugt einem Schwamm gleich alles zur griechischen Kunst und Philosophie auf, was ihm unter Augen und Ohren kommt.

Bei solch wogendem Enthusiasmus für das antike Griechenland ist es kaum verwunderlich, dass sich das beschauliche Thüringer Städtchen vor den Augen Hauptmanns in ein regelrechtes Saale-Athen verwandelt: »Alles um Jena hatte für mich einen fremd-heimlichen Zug, den ich für südlich hielt. Der kahle Jenzig mit seinem bläulichen Muschelkalk breitete eine seltsame Helle aus, die sich leicht ins Geistige übertrug. […] Mußte sich nicht durch dies allein schon vor meinem gleichsam trunkenen Auge die Umgebung in eine griechische Gegend, Jena in ein Athen verwandeln?«

Nicht minder verwunderlich: Die ausdauernde Beschäftigung mit der Antike wird im jungen Studiosus Hauptmann schließlich so heftig drängende Sehnsuchtsanreize freisetzen, die zugehörigen Originalschauplätze rund ums Mittelmeer kennenzulernen, dass dieser sich trotz aller Zuneigung zum holden Jena, bereits im Frühjahr 1883, nach nicht einmal einem halben Jahr vor Ort, entschließt, seine Zelte abzubrechen, um umgehend sich auf den Weg gen Südeuropa zu begeben.

Wurmmehlgesegnete Unterkunft

Noch geht er allerdings voll auf in seinem Jena-Dasein — vor allem eben in jenem Erstkontakt mit der wahren Wissenschaft, die imstande ist, ›Welträtsel‹ zu lösen und deren aufklärerischer Geist ihn geradezu in Verzückung versetzt. Darüber hinaus aber auch in dem ungezwungenen Studentenleben, dem er hier dank monatlicher Zuwendungen seiner Verlobten und späteren ersten Ehefrau Marie Thienemann — eine vermögende Fabrikantentochter aus Radebeul — weitgehend sorglos und ohne allzu groß aufs Geld schauen zu müssen nachgehen kann. »Wir [die Gebrüder Hauptmann] verbrachten den Tag in den Hörsälen, auf Spaziergängen, bei Mittag- und Abendessen im Gasthaus Zum Löwen, oder wir zogen auf eines der Bierdörfer, Lichtenhain oder Ziegenhain, und fühlten uns bei bescheidenen Mahlzeiten selig. Dazu kam eine alte Konditorei, in der Leutrastraße gelegen, neben unserer wurmmehlgesegneten Unterkunft, wo wir regelmäßig zur Vesper Kaffee tranken.« 

Beliebtes Ausflugsziel, bei Gerhart Hauptmann aber auch Ausgangspunkt einer memorablen Nachtwanderung: der Jenaer Fuchsturm auf dem Hausberg um 1900 (Wikipedia)

Besagte ›wurmmehlgesegneten Unterkunft‹ bezog sich auf die in einem Seitenflügel eines innerstädtischen Mehrfamilienhauses gelegene ›Residenz‹ der Brüder, die offenbar mehr als nur einen neuen Anstrich brauchte. »Carl und sein Freund Ferdinand Simon waren bei einem Rat Wuttich untergekommen«, erinnert Gerhart Hauptmann sich später. »[I]ch gesellte mich als dritter dazu. Man hatte uns einen ziemlich vermorschten Flügel des Stockwerkes, das die Familie Wuttich bewohnte, eingeräumt: besser gesagt, man hatte ihn uns überlassen. Denn außer einer wackligen Feldbettstelle, einem wackligen Tisch und einem wackligen Stuhl enthielten unsere kahlen, aber irgendwie wohnlichen Räume nichts. […] Wir machten uns unsere Betten selbst, was wenig Mühe verursachte, da Bettzeug eigentlich kaum vorhanden war, und ließen die Zimmer unausgekehrt. Die Semmeln hängte uns morgens der Bäckerjunge an die Tür, und abwechselnd mußte jeder von uns dreien den Frühstückskakao kochen.« Großer Vorteil dieses minimalistischen WG-Lebens mit Holzwurm: Den Vermietern ist es mehr oder weniger egal, ob, wann und in welchem Umfang sie ihre Miete zahlen oder nicht. — Ein Phänomen übrigens, dem Hauptmann in ähnlicher Form wiederholt in der Saalestadt begegnet. Denn auch Schneider und Schuster, ja selbst sogar mancher Wirt ›bestehen‹ geradezu darauf, dass es nicht nötig sei, die anstehenden Rechnung sofort zu begleichen. Nach Beendigung des Studiums sei ihnen vollkommen ausreichend.

Nachtwanderung nach Weimar
Hauptmann und seine Verlobte Marie Thiene­mann, 1881 (Wikipedia)

Eine Episode seines Thüringenaufenthalts wird Gerhart Hauptmann bis ins hohe Alter im Gedächtnis haften bleiben. Nach einem ihrer regelmäßigen Ausflüge in die nähere Umgebung Jenas sind die Gebrüder nebst einiger Gefährten aus dem Freundeskreis Mitte Februar 1883 in der Fuchsturm-Gastwirtschaft eingekehrt, als der jüngere der beiden Hauptmann-Brüder die spontane Idee in die Runde wirft, man könne doch noch zu einer Wanderung nach Weimar aufbrechen — jetzt sofort, gleich nach dem letzten Bier. Der Grund: Wenige Tage zuvor war Richard Wagner in Venedig gestorben und für den kommenden Tag böte sich die einmalige Gelegenheit, einer konzertanten Gedenkfeier für den berühmten Komponisten im Weimarer Theater beizuwohnen. Tatsächlich finden sich ohne weiteres einige Mitstreiter, die von der Idee genauso hellauf begeistert sind wie deren Schöpfer und so begibt sich die Gruppe noch am gleichen Abend auf den Weg in die 21 Kilometer entfernte Residenzstadt — durch »eine stockfinstere, kalte, von Regenschauern durchsetzte Finsternis«. Im Morgengrauen erreichen sie erschöpft und durchnässt, aber glücklich das Ziel und finden schließlich in der überwältigenden Erfahrung der »Walküre«, die in Teilen zur Gedenkfeier aufgeführt wird, einen würdigen Lohn für ihre Wandermüh’. Freilich hätten sie den Weg ohne weiteres auch ganz bequem per Bahn bestreiten können, zweifellos wäre dann jenes kleine nächtliche Abenteuer aber auch nur halb so memorabel geblieben …

Bleibende Erinnerung

Seinem Jena-Aufenthalt folgend sollte Gerhart Hauptmanns Suche nach einem erfüllenden Lebensinhalt noch das eine oder andere weitere Kapitel erhalten. Auf einen letzten, erfolglosen Versuch, sich als Bildhauer in Rom zu etablieren, folgte eine Zeichenausbildung in Dresden, dieser wiederum Schauspielunterricht und ein neuerliches Studium in Berlin. Dort erst, im Jahre 1889, brach sich endlich und endgültig jener Berufswunsch seine Bahn, der schon seit einigen Jahren darauf wartete, freigelegt zu werden und dem er in der Folge dann auch den Rest seines Lebens nachgehen würde: Dichter und Autor zu sein. Und auch, wenn der bald schon berühmte Schriftsteller Jena, sein Saale-Athen, zeitlebens kein zweites Mal besuchte, sollte sich ihm jene kurze, bereichernde Zeit, die er hier verbrachte, tief einbrennen und schließlich, wie er ein gutes halbes Jahrhundert später festhielt, »im Erinnern zum Menschenalter ausweiten« …