Wider die menschliche Vernunft? Im christlichen Abendland galten Tiere über Jahrhunderte hinweg als justiziabel und mussten sich nach Missetaten persönlich vor Gericht verantworten.

Seitdem Noah einst mit einem ganzen Ausbund an irdischen Kreaturen an Bord der Arche übers Weltmeer trieb, sind die Bande zwischen Mensch und Tier vermeintlich ziemlich eng geknüpft. Dies spiegelt sich vielleicht nicht an erster Stelle, aber unter anderem in den zahlreichen Märchen und Fabeln wider, in denen Tiere mit vermeintlich menschlichen Zügen auftreten. Ebenso in den zahlreichen Redensarten, in denen wir einander als ›fleißiges Bienchen‹, ›Angsthase‹, ›eitler Pfau‹, ›Unglücksrabe‹, ›Frechdachs‹ oder auch einfach nur als ›saudumm‹ betiteln. Gleichermaßen kommt dies in den ›vermeintlichen Dialogen‹ zum Ausdruck, in die wir unsere tierischen Mitbewohner*innen verwickeln, vor allem aber auch in den echten Gefühlen, die wir diesen entgegentragen und die gerade dann besonders deutlich zutage treten, wenn eben jene die oft langjährige Wohngemeinschaft ›vorzeitig‹ verlassen — weglaufen, wegfliegen, überfahren werden, aus Krankheitsgründen eingeschläfert werden müssen. Ja, zumindest auf einer sozialen wie auch emotionalen Ebene sind wir und die (Haus-)Tiere uns mitunter recht nahe.

1457, Lavigny: Eine Sau wird zum Tode verurteilt, weil sie ein Kind gefressen hatte. Illustration von 1864 (Wikipedia)

Wesentlich distanzierter begegnet Mensch dem Tier allerdings, wenn die Sichtweise auf die Ebene des Rechts verschoben wird: In einem (menschengemachten) Justizsystem, das auf der grundsätzlichen Annahme beruht, dass nur rationale und moralisch denkende Wesen für ihr Tun und Handeln zur Rechenschaft gezogen werden können, werden Hund, Katz und Co. auch heute noch kaum anders als ein unbelebtes Ding behandelt — selbst wenn sie hierzulande vor dem Gesetz an und für sich seit mittlerweile 30 Jahren nicht mehr als bloße Sachgegenstände gelten und mittlerweile sogar ihnen zugedachte Tierschutzrechte festgeschrieben wurden. Egal, wie sehr diese auch über die Stränge schlagen mögen — ja selbst, wenn ein Tier einen Menschen tötet, sind es stets deren Besitzer und nicht die Tiere selbst, die im Falle eines nachfolgenden Prozesses vor dem Gericht erscheinen müssen. Soweit, so ›normal‹.

Offenbar gab es im Laufe der (Rechts-)Geschichte jedoch auch Zeiten, da man dies entschieden anders sah. Zwar werden seit eh und je jeweils die Besitzer der Tiere zur Rechenschaft und Kasse gebeten, wenn etwa deren Rinder unerlaubt auf fremdem Gebiet weideten, Tauben des Nachbarn Korn plünderten oder Schweine fremde Äcker verwüsteten. Im Mittelalter und noch bis weit in die Neuzeit hinein kam es jedoch immer wieder auch zu außerordentlichen Fällen von Gerichtsbarkeit, in denen tierischen Missetätern höchstselbst der Strafprozess gemacht wurde — ganz ordentlich mit Richter, Ankläger, Verteidiger und Zeugenvernehmung, vor großem Publikum auf dem lokalen Gerichtsplatz und einem final vom Henker vollstreckten schriftlichen Urteil. Am weitesten verbreitet waren derartige ›Tierprozesse‹ in Frankreich. Aber auch in der Schweiz, in Deutschland, Italien, England und Belgien wurden ab dem 9. Jahrhundert und teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein regelmäßig Tiere vor Gericht gestellt — häufig waren es Schweine, immer wieder gab es jedoch auch Fälle, in denen Rindern, Ziegen, Hunden, Katzen, Ratten und Mäusen, ja sogar Heuschrecken und Maikäfer einem Richter vorgeführt wurden.

Hängt das Schwein!

Clermont, im Herzen Frankreichs. Im Juni des Jahres 1494 bewegte hier ein grauenhaftes Ereignis die Gemüter der Einwohner: Ein Schwein war in Abwesenheit seiner Besitzer in deren Haus eingedrungen und an dem dort in seiner Krippe schlafenden Kleinkind zum Mörder geworden. Wider Erwarten wurde das Borstentier nicht auf der Stelle getötet, sondern von der Obrigkeit zunächst in ›Beugehaft‹ genommen und in der Abtei des örtlichen Klosters eingesperrt. Erst nachdem sich ein Gericht inklusive Verteidiger für das angeklagte Schwein zusammengefunden hatte, mehrere Zeugen zu dem Fall befragt und das Tier des Mordes zweifelsfrei überführt worden war, fiel der Richtspruch: »Voller Abscheu und Schrecken haben wir in dem gegenwärtigen Fall und um das Recht exemplarisch zu wahren, gesagt, geurteilt, gerichtet, verkündet und entschieden, dass das genannte Schwein, das in der Abtei als Gefangener festgehalten und eingesperrt ist, durch den Scharfrichter erhängt und erwürgt werden soll an einem Holzgalgen bei den Galgenhölzern am Richtplatz.« 

In einem ähnlich gelagerten Fall in schweizerischen Lavigny wurde 1457 eine Muttersau nebst ihrer sechs Ferkeln angeklagt, ein fünfjähriges Kind getötet zu haben. Während der Besitzer des Schweins mit einer Geldstrafe davonkam, wurde das ›mordlustige‹ Muttertier für schuldig befunden und ebenfalls zum Tod durch den Strang verurteilt. Ihre Ferkel hatten mehr Glück: Weil niemand ihre Mitschuld bezeugen konnte, wurden sie wieder freigesetzt.

Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang auch das »Tribunal von Falaise«. Im Jahre 1386 fiel in dem westfranzösischen damaligen Dorf ein außer Rand und Band geratenes Schwein über einen drei Monate alten Säugling in seiner Wiege her. Auch dieses auf frischer Tat ertappte Schwein wurde zunächst in den Kerker geworfen, dann von einem ordentlichen Gericht verurteilt und in der Umsetzung des Richtspruchs anschließend in gleicher Weise verstümmelt wie das von ihm tödlich verletzte Kleinkind — bevor es angekleidet wie ein Mensch auf dem lokalen Richtplatz vor den Augen der versammelten Menge vom Scharfrichter aufgeknüpft wurde. 

Wiederherstellung des sozialen Friedens

Sollte es tatsächlich möglich sein, dass unsere Vorfahren in Fragen der Jurisprudenz Tiere als so etwa wie ›Rechtspersonen‹ angesehen haben, die für ihre Taten vollumfänglich verantwortlich gemacht werden können? Gingen die Menschen des späten Mittelalters wahrhaftig davon aus, dass die unter Anklage stehenden Tiere den Ernst der Situation begriffen? Wohl kaum. Auch die Juristen jener Zeit dürften sich durchaus im Klaren darüber gewesen sein, dass Tiere einem Gerichtsprozess intellektuell kaum gewachsen waren, geschweige denn den über sie verhängten Urteilsspruch verstehen konnten. Nur warum dann dieses absurde und morbide Theater? Warum Haus- und Nutztiere an den Galgen bringen? 

Nun, es dürfte vermutlich eine Mischung aus altertümlicher Rechtslogik, die alttestamentliche Gebote mit altgermanischem und römischen Rechtsverständnis verband, sowie Nützlichkeit — jedes Gerichtsverfahren ließen sich die daran Beteiligten gut bezahlen, offenkundigem Aberglauben — ›Der Teufel ist ins Tier gefahren!‹ — und so etwas wie Abschreckungspragmatismus gewesen sein, welche diesen Tierprozessen zu derartiger Popularität verhalf. Sicherlich boten diese fürs gemeine Volk auch einen ›allgemeinen‹ Unterhaltungswert, weitaus mehr im Vordergrund dürfte jedoch sicher die Absicht gestanden haben, auf diese Weise geschehenes Unrecht, also die frevelhafte Tat an sich, sichtbar zu tilgen und damit den sozialen Frieden und die gottgegebene Ordnung in ›befriedigender Weise‹ wieder herzustellen. 

Und eben auch künftige Delinquenten abzuschrecken: Absurderweise wurden offenbar auch wiederholt Artgenossen des verurteilten tierischen Delinquenten dazu ›angehalten‹, den Urteilsvollstreckungen beizuwohnen. Ob die anwesenden Tiere im Publikum die Botschaft verstanden, ist fraglich — zumindest allen Eltern dürfte das Spektakel jedoch als mahnende Warnung gedient haben, ihre Kinder, die ja meist die Opfer dieser Attacken wurden, besser vor allzu zudringlichen Tieren zu schützen.

Exorzierte Insekten

Waren die Prozesse, die die weltlichen Gerichte gegen Nutz- und Haustiere führten und für letztere in der Regel am Galgen endeten, eher absurd-morbider Natur, so fielen die Tierprozesse der kirchlichen Gerichtsbarkeit, die zumeist gegen als Plagen auftretende Insekten und Nagetiere gerichtet waren, durch ihr skurril anmutendes Naturell auf: Kam es wieder einmal dazu, dass Heuschrecken über Äcker herfielen, Scharen von Mäusen den Boden zerwühlten oder Raupen- und Käferhorden wertvolle Weinreben wegfraßen und die Gemeinschaft sich außerstande sah, die ›Schädlinge‹ ohne Gottes selbst Hilfe unter Kontrolle zu bekommen, trat das kirchliche Gericht auf den Plan. Dieses schickte zunächst einen Gesandten zur betroffenen Nutzfläche, um die beschuldigten Insekten oder Nager in höchst offiziellem Ton für einen vorher festgelegten Termin ›persönlich‹ vor Gericht zu zitieren. 


Darstellung des »Tribunals von ­Falaise« von Arthur Mangin, 1872 (privat)

In der Regel resultierten die anschließenden Verhandlungen, die selbstverständlich nicht minder förmlich als die weltlichen Gerichte geführt wurden, darin, dass die angeklagten Tiere vom Richter mit großer Bestimmtheit dazu aufgefordert wurden, sich bis zum Ablauf eines bestimmten Ultimatums von der betroffenen Fläche, wo sie zur Plage geworden waren, zu entfernen. Schlugen die Plagegeister das Ultimatum oder auch das mitunter vorgebrachte Angebot einer Ersatzfläche aus — schließlich galten diese in den Augen der Kirche ebenfalls als Gottes Geschöpfe und hatten daher ebenfalls ein Anrecht darauf, auf Erden zu weilen und sich mit Futter zu versorgen, wenn auch unter dem Menschen — wurde die Gangart verschärft: Besprenkelung der Flächen mit Weihwasser, exemplarische Hinrichtung einzelner Artgenossen, Exkommunikation, Exorzismus, Bannfluch der gesamten renitenten Tierschar. 

1719 traf es der Überlieferung zufolge einen Heuschreckenschwarm, der es sich in der Nähe von Nancy niedergelassen hatte, 1728 eine Horde Käfer, die den Weinreben im Dorf Eulmont zusetzten. Beide ließen die Fristen ohne erkennbare Willen einzulenken verstreichen. Der Lohn: Bannfluch. Recht störrisch zeigten sich offenbar auch die Maikäfer um Avignon. Trotz großzügig eingeräumter Fristen verweigerte die ganze Wälder entlaubende Käferhorde den Abzug aus der Region — was ihnen schließlich mit rigoroser ›Exkommunikation‹ quittiert wurde: Die Käfer wurden von den Bäumen geschüttelt und an die Hühner verfüttert. Ebenfalls mit Maikäfern befasste sich das bischöfliche Gericht in Lausanne um 1500. Bekanntheit erlangte dort jedoch insbesondere ein ›tierisches‹ Strafverfahren, das 1451 gegen die Blutegel im Genfersee angestrengt wurde. Auch diese wurden ob ihrer unerwünschten Anhänglichkeit offiziell vorgeladen, offiziell verurteilt, offiziell ausgewiesen. Doch die gierigen Blutsauger ließen sich selbst nach der dritten Ermahnung und dem großflächigen Einsatz von Weihwasser nicht von ihrer selbstgefassten Mission abbringen — und nahmen es in Kauf, fortan erschlagen und zertreten zu werden.

Kurzes Tierglück

Im Vinschgau gelang es einer Schar an Wühlmäusen offenbar sogar fast einmal, als Sieger aus einem gegen sie geführten Gerichtsprozess hervorzugehen: Im Herbst des Jahres 1519 wurde im dortigen Glurns Anklage gegen die umtriebigen Nager erhoben, die ihren Namen offensichtlich ein wenig zu frenetisch in die Tat umgesetzt und die Ackerflächen der Bauern großflächig zerwühlt hatten. Wie auch in anderen Tierprozessen wurde den angeklagten Mäusen ein Verteidiger zur Seite gestellt. Anders als sonst zog sich jedoch nicht nur der Prozess sichtbar in die Länge — ein halbes Jahr ging ins Land, bis der letzte Zeuge vernommen und alle Pros und Contras von Anklage und Verteidigung vorgetragen waren — auch das Urteil fiel zunächst völlig entgegen der Erwartung der menschlichen Kläger aus: Jene Lutmäuse seien zwar »unvernünftige Tierlein«, urteilte der Richter, aber seit eh und je vor Ort beheimatet und dürften daher bleiben. Es war fast zu schön, um wahr zu sein — und sollte auch nicht Wirklichkeit werden. Denn als die konsternierten Bauern zu bedenken gaben, dass sie in der Folge nun neben den zu erwartenden Ernteeinbußen wohl auch nicht mehr imstande wären, regelmäßig ihre Abgaben an die Obrigkeit zu liefern, revidierte der Richter sein Urteil noch einmal und befand: Die Mäuse müssten nun doch »für ewige Zeiten« den Ort verlassen — garantierte ihnen dafür aber freies und sicheres Geleit und: eine Schonfrist für all jene Mäuse, die gerade schwanger, zu jung oder zu krank waren, um die Reise ins Exil anzutreten.


Esel vor Gericht — aber nicht als Angeklagter:
1838 fand in London erstmals ein Prozess wegen Tierquälerei statt. Gemälde von P. Mathews

An Skurrilität übertroffen wird dieser Fall eigentlich nur von einem Tierprozess, den einst die Bewohner des legendären Schilda führten: Überdrüssig der unzähligen Erdhügel, die seine Wiese stets weniger grün denn braun erscheinen ließ, grub ein Bauer den dafür verantwortlichen Maulwurf aus und brachte ihn vor ein Tribunal, welches dem unbelehrbaren Grabmeister kurzum den Prozess machte. Das Urteil: größtmögliche Pein für den Maulwurf! Er möge lebendig begraben werden! — Gesagt, getan. Der Kläger ward zufriedengestellt, der Beklagte ebenso. Wie heißt es so schön: Von den Schildbürgern lernen, heißt fürs Leben lernen …