Jedes Türchen ein Pläsierchen: Der belesene Adventskalender

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Sie brauchen dieser dunklen Tage mal wieder frische Lektüreideen? Wissen wieder einmal nicht, was verschenken an Weihnachten? Ein Buch geht immer – und Vorschläge haben wir reichlich. Bis zum 24. Dezember öffnen wir hier täglich ein weiteres Türchen, um Ihnen eines jener Bücher mit dem besonderen Etwas vorzustellen, die dieses Jahr das Licht der Welt erblickt haben. Kommen Sie mit uns auf Adventslese – möglicherweise werden Sie ja fündig. Hinter Türchen Nr. 2 zum Vorschein kommt heute:

Willy Vlautin: »Nacht wird es immer«

Willy Vlautin: „Nacht wird es immer“
Berlin Verlag, 288 Seiten (geb.)

Gegen das Scheitern ankämpfen

Willy Vlautin, 1967 in Reno, Nevada geboren, ist schon seit fast 30 Jahren als Musiker unterwegs, erst als Sänger von „Richmond Fontaine“, jetzt als Sänger der Nachfolgeband „The Delines“. Seit mittlerweile mehr als 15 Jahren betätigt Vlautin sich parallel dazu auch als Schriftsteller, so dass nicht nur weit über ein Dutzend Musikalben, sondern auch bereits sechs Romane seinen Namen tragen. Verbindendes Element: Beides, sowohl seine Musik als auch seine Bücher sind im besten Sinne ‚Americana‘ – also raue, ungeschönte Betrachtungen des einfachen, ländlichen Amerikas, insbesondere jener eher düster ausgeprägten Seiten des großen amerikanischen Traumes, die von Hoffnung und Verlust, Emporstreben und Scheitern, Schulden, Abhängigkeit und Tod gezeichnet ist – sich bei aller Lebenslast jedoch einem grundsätzlichen Auf- oder Kleinbeigeben entschieden entgegenstellen.

Viele seiner Romanfiguren tragen diese Facetten in sich, sind Opfer gesellschaftlicher Missstände, die unter ihrer antrainierten Hartschaligkeit bereits deutliche Beschädigungen oder doch zumindest eine ausgeprägte Verletzlichkeit zu verbergen versuchen, ihre Sehnsüchte mit großem Eigenwillen vorantreiben und doch nicht wirklich vom Fleck kommen: der 15-jährige Charley in „Lean on Pete“, die Serviererin Allison in „Northline“, der Rancharbeiter Horace in „Ein feiner Typ“. Und auch Lynette, die Hauptfigur von Willy Vlautins neuem Roman „Nacht wird es immer“ lässt sich hier ohne weiteres einreihen.

Lynette lernen wir als Endzwanzigjährige kennen – eine Frau, die stets am Rand zur Überforderung, neben ihren zwei Jobs (Bäckerei und Kneipe) ihren Schulabschluss nachzuholen versucht, sich daheim liebevoll, aber doch nicht so fürsorglich, wie sie eigentlich möchte, um ihren behinderten Bruder zu kümmern und überhaupt den Haushalt zusammenzuhalten. Der eigentlich sehr überschaubar ist. Gemeinsam mit Mutter und Bruder bewohnt sie ein kleines halb marodes Haus zur Miete, doch wie auch im Rest des Landes sind in Portland (Oregon) die Mieten enorm gestiegen. Selbst ihre schlichte Bleibe macht da keine Ausnahme. Und dennoch hat Lynette eigentlich nur ein Ziel vor Augen: den Kauf eben jenes Hauses, in dem sie wohnen, um endlich unabhängiger, abgesicherter der Zukunft entgegentreten zu können. Tatsächlich hat ihr Vermieter ihnen ein Vorkaufsrecht und einen Vorzugspreis eingeräumt, auch ein Termin steht schon, um den Sache ins Rollen zu bringen. Einerseits gut, andererseits überhaupt nicht gut, schließlich hat Lynette noch nicht einmal annähernd die Summe beisammen, die für den Hauskauf aufgerufen wurde.

Und als wäre dies nicht schon Grund zum Verzweifeln genug, beschließt ihre Mutter in einem Anfall ausgeprägten Egoismus einen Tag vor jenem entscheidenden Termin, sich jetzt unbedingt, sofort ein neues, teures Auto kaufen zu müssen. Was die erhofften Rückklagen für den Hauskauf natürlich noch einmal erheblich sinken lässt. Lynette bleibt nun nur noch eine Nacht, um das Geld aufzutreiben – und sie ist trotz aller Aussichtslosigkeit fest entschlossen, diese eine Chance nicht fahren zu lassen, diesen Traum vom Eigenheim dem Schicksal abzutrotzen. Allerdings muss sie dafür jetzt und sofort, noch diese Nacht, die Schulden bei all denen einzutreiben, die Teil jener abgründigen Vergangenheit sind, die sie eigentlich nie wieder anrühren wollte. Zwielichtige Figuren, die lieber lügen, betrügen und die Hand erheben als reumütig und einsichtig ihr Portemonnaie zu öffnen. Es wird ein Wettlauf gegen die Zeit, der Lynette viele Blessuren einbringen wird, aber sie will um jeden Preis am Ende dieser Nacht als Gewinnerin dastehen. Wenigstens dieses eine Mal.

„Nacht wird es immer“ reiht sich perfekt in die Reihe der ‘Americana‘-Romane ein, die Willy Vlautin bisher hervorgebracht hat – und man muss es ihm lassen: So kraftvoll und behutsam, so realistisch und respektvoll wie er weiß kaum einer von denen zu erzählen, die verdammt sind, dem Sehnsuchtsbild des sogenannten amerikanischen Traums auf ewig hinterher zu rennen. Was zweifellos auch daran liegt, dass der Autor das Milieu, das er beschreibt, genau kennt, selbst darin aufgewachsen: „Würde ich über Ärzte oder Anwälte schreiben“, hat er einmal gesagt, „so wäre das, als ob ich über Drachen oder Raumschiffe schreiben würde.“ Besser, Willy Vlautin bleibt auch weiterhin bei diesen ihm eigenen Geschichten ‘einfacher‘ Menschen – „Nacht wird es immer“ dürfte auf jeden Fall dafür sorgen, dass seine Fangemeinde hierzulande weiter anwächst.