Jedes Türchen ein Pläsierchen: Der belesene Adventskalender

895

Sie brauchen dieser dunklen Tage mal wieder frische Lektüreideen? Wissen wieder einmal nicht, was verschenken an Weihnachten? Ein Buch geht immer – und Vorschläge haben wir reichlich. Bis zum 24. Dezember öffnen wir hier täglich ein weiteres Türchen, um Ihnen eines jener Bücher mit dem besonderen Etwas vorzustellen, die dieses Jahr das Licht der Welt erblickt haben. Kommen Sie mit uns auf Adventslese – möglicherweise werden Sie ja fündig. Hinter Türchen Nr. 4 zum Vorschein kommt heute:

Max Annas: »Der Hochsitz«

Max Annas: „Der Hochsitz“
Rowohlt Verlag, 272 Seiten (geb.)

Da trügt der Schein

Fünffach-Krimipreisträger Max Annas hat vor wenigen Monaten wieder einmal einen seiner heiß begehrten, umfassend beliebten Kriminalromane veröffentlicht. Und wie viele seiner bisherigen Krimis hat auch „Der Hochsitz“ nicht nur eine verzwickte Mordsgeschichte zum Gegenstand, sondern nimmt auch die gesellschaftlichen Verhältnisse der Lokalität und der Zeit ziemlich genau unter die Lupe, in der die jeweilige Geschichte gerade ihren Lauf nimmt.

Dafür begeben wir uns dieses Mal reichlich weit hinaus aus bekannten Großstadtgefilden und tief hinein in die Provinz – genau genommen nach Rheinland-Pfalz, in die südliche Eifel, schon fast mit einem Fuß im Nachbarland Luxemburg. Dort ereignen sich in einem kleinen Dorf voller Beschaulichkeit – was für einen Krimi an sich nicht weiter verwunderlich oder gar überraschend sein dürfte – mehrere Verbrechen. Da werden plötzlich Drogen geschmuggelt und eine Bank ausgeraubt, verstecken sich RAF-Terroristinnen im Wald und ja, gibt es dann auch gleich noch zwei Morde. Durchaus ungewöhnlich sind hierbei in der Tat die beiden Ermittlerinnen, die sich parallel zu den herbei beorderten zertifizierten Kriminalbeamten an die Lösung des Falls machen: Sanne und Ulrike, zwei elfjährige Mädchen, die im Hochgefühl einer allgemein aufflammenden Begeisterung über die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft in Argentinien – wir schreiben das Jahr 1978 – durch ihre Schulferien stromern. Wenn sie sich nicht gerade mit ihren selbstgebastelten Fußballsammelalben befassen, deren Lücken sie kongenial mit den aus Fahndungsplakaten ausgeschnittenen Konterfeis von Rainer Bonhof und Christian Klar ausfüllen, hocken die beiden Freundinnen am liebsten auf der Plattform eines am Waldrand gelegenen Hochsitzes, von dem aus sie eine perfekte Rundumsicht auf die Dinge haben, die sich da in und um ihr Dorf abspielen.

Auch wenn sie bei weitem nicht alles verstehen und einzuordnen wissen, was sie von da oben aus beobachten, können sie sich durchaus auf so manches einen Reim machen, dass etwa der einzige Langhaarige im Dorf nicht der gesuchte Mörder vom Petershof sein kann. Den haben sie ja schließlich zur Tatzeit mit einer blonden Frau im Heuschober verschwinden gesehen. Außerdem trug der Mörder einen schwarzen Anzug und einen Schlapphut – und er hat die im Moment der Tat alles beobachtende Sanne vielleicht auch gesehen..

Wenig verwunderlich finden die beiden gar nicht so kleinlauten Mädchen bei den Erwachsenen mit ihren gesammelten Beobachtungsmomenten nebst zugehörigen Interpretationsvorschlägen wenig Gehör – was sie jedoch nicht davon abhält, sich forsch und auf eigene Faust auf die Suche nach dem Mörder zu machen…

Max Annas‘ „Der Hochsitz“ ist ein ungewöhnlicher, aber in sich stimmiger Krimi: Mag man anfangs noch denken, die aus Perspektive der beiden Teenager wiedergegebenen Beobachtungen seien ohne Zusammenhang und schlichtweg nur dahererzähltes Zeug zweier Minderjähriger; mag man anfangs noch meinen, der Roman wolle irgendwie keine durchgängige Handlung, keinen roten Faden entwickeln, so merkt man irgendwann, dass alles doch schon da ist – mehr noch, dass die verschiedenen ausgerollten Handlungsstränge deutlich an Fahrt aufnehmen, immer wieder auch berühren und einem ‘erlösenden‘ Showdown zustreben. Oder in kurz: Was harmlos anfängt, entpuppt sich am Ende als eine facettenreiche Momentaufnahme der westdeutschen Provinz Ende der 1970er Jahre, welche die allzu häufig kolportierte Meinung, ‘damals‘ sei wenigstes auf dem Lande noch alles in Ordnung gewesen, auf recht originelle und durchweg spannend-unterhaltsame Weise aus den Angeln hebt.  Lesetipp, nicht nur für Krimifans.