Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Wilhelm Bode: »Tannen. Ein Portrait«
Nadeliger Lieblingswaldgeselle
„O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!“ – es dürfte hierzulande kaum jemanden geben, der wenigstens die ersten Zeilen dieses Lied nicht kennt. Doch kennen ist bekanntlich nicht gleich wissen: Was wissen wir aus dem Stehgreif tatsächlich über diesen vielbesungenen Baum, außer dass er offenbar immergrün ist („Du grünst nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit“) und zumeist als ‚Nordmanntanne‘ just dieser Tage gerade wieder reich geschmückt unsere Wohnstuben schmückt (und dabei nach und nach besagtes immergrüne Blätterkleid fallen lässt)? Wie ist es: Hängen die Tannenzapfen an den Ästen nach unten oder ragen sie von diesen empor? Wie lässt sich überhaupt eine Tanne von einer Fichte, Kiefer oder Douglasie unterscheiden? Warum gibt es heutzutage so wenige Tannen in unseren deutschen Wäldern? Hat die Tanne eher weiche oder spitze Nadeln? Wieso ist es ein eher aussichtsloses Unterfangen, nach Tannenzapfen am Waldboden zu suchen? Und woher kommt überhaupt dieser Brauch, sich zur Weihnachtszeit einen lichterbehangenen ‚Tannenbaum‘ ins eigene Heim zu stellen?
Höchste Zeit, ein wenig Licht ins Dunkel des von uns vielfach gerühmten, aber irgendwie gleichzeitig auch entrückten Tannenwaldes zu bringen. Übernommen hat diese Aufgabe Buchautor Wilhelm Bode, der für sein literarisches Baumporträt in der bei Matthes & Seitz erschienenen „Naturkunden“-Reihe eine ideale Bühne gefunden hat. Bereits seit 2013 erscheinen in der von Judith Schalansky kuratierten und herausgegebenen Reihe regelmäßig Bücher, die im weiteren oder im engeren Sinn von belebter und unbelebter, vertrauter und fremder Natur erzählen. Mal als Porträt, mal als anschaulich-leidenschaftlicher Akt des ‚Nature Writings‘. Zu Einzelthemen wie „Krähen“, „Heringen“, „Schnecken“, „Schmetterlinge“, „Füchse“, „Wölfe“, „Brennnesseln“, „Kakteen“, „Eidechsen“, „Käfer“, „Schleim“, „Pilze“ und „Bakterien“ – aber auch zu Themen, in denen die Natur an sich zum Protagonisten wird: in Hymnen an die Wüste etwa oder prosaischen Begegnungen mit alten Wegen oder wilden Wäldern. 66 Bände hat die „Naturkunden“-Reihe bereits hervorgebracht, einer schöner bebildert als der andere, ein jeder so stupend inhaltsprall, so augen- und handschmeichelnd wohlgestaltet wie der andere. Ein jedes Buch ein kleines Gesamtkunstwerk – und alle zusammen genommen ein bibliophiler Schatz, der Wissen, Natur und Buchkultur zugleich zelebriert.
Nun also Band 67 der Reihe: „Tannen. Ein Portrait“ von Wilhelm Bode. Dass Bode so viel über Flora und Fauna des Waldes weiß, kommt nicht von ungefähr: Der 1947 geborene Westfale steckt schon seit Jahrzehnten tief in der Materie drin und kann sich mit Fug und Recht als jemand bezeichnen, der sich in Sachen ‘Wald‘ auskennt. Als Leiter der saarländischen Forstverwaltung setzte er bereits 1987 wider allen forstwirtschaftlichen Konventionen die Abschaffung von Kahlschlag bzw. die Einführung eines Dauerwaldprinzips in sämtlichen öffentlich zugänglichen Waldflächen des Bundeslandes durch. 1994 veröffentlichte er gemeinsam mit Martin von Hohnhorst den mittlerweile zum (Wald)Naturschutz-Klassiker “Waldwende – Vom Försterwald zum Naturwald”, veranlasste 2004 die erfolgreiche Aufnahme der deutschen Buchenwälder in die UNESCO-Welterbe-Liste und ist grundsätzlich niemand, der sich davor scheut, klare Position zum Zustand der hiesigen Wälder zu beziehen. Gerade auch, wenn es um die Tanne geht.
Die Tanne als perfekter Bewohner eines Mehrgenerationenwaldes
Entsprechend bietet Bode in seinem umfassend detailreichen und beinahe noch reicher bebilderten Tannen-Porträt nicht nur vielschichtige Reflexionen zu pflanzenbiologischen, waldökologischen und kulturgeschichtlichen Aspekten der Tannen, sondern findet immer wieder auch deutliche Worte für die Intensivforstwirtschaft der vergangenen Jahrzehnte, die – an erster Stelle auf schnelle Erträge ausgelegt – der schnell wachsenden und in Monokultur-Stangenwäldern herangezogenen Fichte unbedingt den Vorzug gegenüber der Tanne und/oder einem Mischwald gegeben hat. Schlecht fürs Portemonnaie, wenn die Weißtanne nur in einem Mehrgenerationenwald aus Buchen, Ahorn und Fichten und überdies auch noch nur in gemächlichem Tempo heranzuwachsen bereit ist. Dabei sind Tannen weitaus resistenter gegen Klimakrisen als die im Flachland ‚verweichlichten‘ Fichten und können, in bester Mischwald-Harmonie platziert, zu wahren Baumriesen erwachsen – und als solche ohne weiteres mehrere Hundert Jahre alt werden. Wenn man sie denn lässt. Man denke da nur wie Wilhelm Bode an den Schwarzwald, der seinen Namen nicht etwa den heute großflächig vor sich hinsterbenden Fichtenplantagen verdankt, sondern den einstmals reichen Tannenbeständen, die mit ihrer nicht zu ‚übersehenden‘ dunklen Pracht innerhalb dieses süddeutschen Waldgebiets einst bei weitem nicht nur namensgebende Funktion übernahmen. Wenn Bode beschreibt, wie stark die Weißtanne ursprünglich einmal hierzulande mit der Rotbuche verbunden war, in deren Nachbarschaft diese genau die Keim- und Wachstumsbedingungen vorfindet, um mit aller erforderlichen Gemächlichkeit zu einem bis zu 70 Meter hohen Waldgiganten emporzuwachsen und einträchtig mit all den anderen um sie herum wachsenden Baumarten einen zugleich wilden und perfekt abgestimmten Mehrgenerationenwald zu bilden, kann man sich nur wünschen, dass das aktuell in der Forstwirtschaft angestoßene Umdenken die Vision eines von Tannen durchwachsenen deutschen Waldes möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft wieder auferstehen lässt. Bis dahin müssen wir wohl in die Karpaten fahren, wo es tatsächlich noch (!) unberührte Tannenwälder geben soll. Die ‚berühmten‘ Tannenzapfen kann man aber auch dort nicht sammeln: Im Gegensatz zur Fichte lässt die Tanne ihre Zapfen partout nicht fallen…