Lesestoff für die Frühlingszeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände weiterhin empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Casey Cep: »Grimme Stunden«

Spannende Geschichte, faszinierende Studie

Casey Cep: „Grimme Stunden“
Ullstein Verlag, 464 Seiten (geb.)

Harper Lee war zweifellos so etwas wie ein literarisches One-Hit-Wonder. 34-jährig veröffentlichte sie 1960 sie ihren Debütroman „Wer die Nachtigall stört“, der sich einsgeschwind nicht nur zu einem wahren Topseller entwickeln sollte – bis heute wurde das Buch weltweit über 40 Millionen Mal verkauft –, sondern ein Jahr später ihr auch den Pulitzer Preis für Belletristik einbrachte, überdies wiederum ein Jahr später mit Gregory Peck in der Hauptrolle höchst erfolgreich verfilmt wurde. Harper Lee, das war in den 1960ern nichts anderes als eine literarische Topmarke, von der sich Verlage und Leserschaft nichts sehnlicher wünschten als einen weiteren Roman, eine weitere Veröffentlichung, irgendwas, das von ihr stammte. Ein Wunsch, der unerhört blieb – ja, bis zu ihrem Tod im Jahr 2016 unerhört bleiben sollte. Zwar schien es ein Jahr vor Harper Lees Abkehr vom weltlichen Geschehen für einen Moment, als seien die Gebete aller Wartenden doch noch erhört worden – indes erwies sich das unter großem Tamtam veröffentlichte „Go Set A Watchman“ bzw. „Gehe hin, stelle einen Wächter“, wie die deutsche Fassung heißt, nicht als DER langersehnte neue Harper Lee-Roman, sondern ‘lediglich‘ als die inhaltlich leicht modifizierte Urfassung von „Wer die Nachtigall stört“, die angeblich kurz zuvor wiederentdeckt worden war.

Und dennoch, auch wenn sie selbst hin und wieder davon sprach, eben zu jener Sorte von Schriftstellern zu gehören, die nur ein Buch in sich tragen, war Harper Lee der Idee eines zweiten Buchs alles andere als abgeneigt. Genau genommen saß sie Ende der 1970er an einem Projekt, das sie über Jahre hinweg gepackt und definitiv auch das Potenzial für den nächsten großen Wurf hatte. Selbst der Titel stand schon: „The Reverend“ wollte sie es nennen – in Anspielung auf die (wahre) Geschichte um einen Prediger namens William Maxwell, der mutmaßlich innerhalb weniger Jahre zunächst seine Ehefrau, dann seinen Nachbar, dann seinen Bruder, dann seine zweite Ehefrau, dann seinen Neffen und schließlich die Adoptivtochter seiner dritten Ehefrau umgebracht hatte, für all diese beträchtliche Lebensversicherungen kassierte, überdies an allen, die ihn verdächtigten, Vodoo praktizierte und schließlich auf der Beerdigung seines letzten Opfers selbst ermordet wurde. Eine True-Crime-Story also sollte es werden, ganz im Stile von Truman Capotes berühmten ‚Sachbuch-Roman‘ „Kaltblütig“, dem sie, die seit Jugendtagen befreundete Harper Lee, seinerzeit bei den Vorbereitungen für das Buch geholfen hatte – nur eben jetzt aus eigener Feder. Doch das Projekt blieb trotz umfassender, jahrelanger Recherchen, die Lee betrieb – sie interviewte so ziemlich jeden, der jemals Kontakt zu dem Prediger hatte, stapelte Prozessabschriften, Fallakten, Sterbeurkunden, Karten, Zeitungsausschnitte etc. – ja trotz allen Aufwands blieb „The Reverend“ letztlich Fragment und unvollendet – bis jetzt.

Casey Cep, amerikanische Autorin, gut drei Generationen jünger als Harper Lee und wahrscheinlich ähnlich verbissen, wenn es um gründliche Recherche geht, hat sich des historischen Kriminalfalles angenommen und die Geschichte niedergeschrieben, die Lee vergeblich versucht hat, zu Papier zu bringen. Wobei Cep in „Grimme Stunden“ gleich zwei auf jeweils eigene Weise ziemlich spannende Erzählstränge präsentiert. Zum einen natürlich die wahrlich faszinierende Mordsgeschichte um den schwarzen Prediger Maxwell, die sie in bester True Crime-Story-Manier rekonstruiert. Zum anderen aber auch Harper Lees Biographie und die unmittelbar damit verknüpfte einzigartige Geschichte eines hochkarätigen kreativen Scheiterns: Also wie es dazu kommen konnte, dass die umjubelte Schriftstellerin trotz allen Enthusiasmus, den sie für den Maxwell-Fall zeigte, trotz aller geradezu fieberhaft ausgeführten Recherchen und trotz angeblich täglicher Schreibstunden auch nach zehn Jahren noch kein fertiges Manuskript vorweisen konnte – und letztlich ein literarisches One-Hit-Wonder blieb. Casey Ceps „Grimme Stunden“ wird ohne Zweifel nicht die Aufmerksamkeit erfahren wie sie einst Capotes „Kaltbütig“ oder Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ zukam, einen Ehrenplatz hat es sich indes zwischen eben diesen beiden Titeln im Bücherregal definitiv verdient.