Lesestoff für die Frühlingszeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände weiterhin empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Michael Hugentobler: »Feuerland«

Die abenteuerliche Reise eines Buches

Michael Hugentobler: „Feuerland“
dtv, 224 Seiten (geb.)

Kann man ein Wörterbuch zum Hauptdarsteller eines Romans machen? Bevor Sie ins Grübeln kommen: Man kann. Der Österreicher Michael Hugentobler kann es sogar so gut, dass man der Geschichte seines neuen Romans „Feuerland“ mit stetig wachsender Begeisterung folgt. Dabei handelt es sich hier natürlich nicht um irgendein, sondern um ein im wahrsten Sinne des Wortes einzigartiges, obendrein tatsächlich existierendes Wörterbuch: das einzige lexikographische Werk, das die Sprache, Kultur und Lebenswelt der Yámana versammelt und widerspiegelt – eines Stammes indigener Bewohner Feuerlands, deren letzte Muttersprachlerin heute, wenn sie denn noch lebt, 93 Jahre alt ist. Was Hugentoblers wirklich grandiosen Roman in einem traurigen Kehrschluss noch mehr Bedeutsamkeit zukommen lässt als dieser sowieso verdient.

Gestalt und Inhalt gewinnt der auf wahren Figuren und Begebenheiten beruhender, aber mit viel Phantasie ausgeschmückte Roman durch seine beiden Hauptfiguren, die, nehmen wir es gleich vorweg, einander nie begegnen. Da ist zum einen Thomas Bridges. Als Ziehsohn eines britischen Missionars in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am südlichsten Zipfel Südamerikas aufgewachsen, lebt dieser von kleinauf inmitten der patagonischen Wassernomaden vom Stamm der Yámana. Fasziniert von deren exotisch-archaischen Lebenswelt und insbesondere auch deren Sprache beginnt er, einzelne Yámana-Worte und deren Bedeutung auf kleinen Zetteln zu notieren, führt diese dann aber, als er den Überblick über seine ausufernde Maße annehmende Zettelsammlung zu verlieren droht, nach und nach in einem umfangreichen Wörterbuch zusammen. Wobei er diese Wörtersammlung derart umsichtig und geschickt aufbaut, dass das Buch jedem Leser, der es in die Hand nimmt, ein so umfassendes Abbild der Lebenswelt der Yámana bietet, dass für den Fall, deren Welt sollte einmal untergehen (siehe Absatz oben), die Nachwelt einen präzisen Bauplan für eine Rekonstruktion der Wirklichkeit der Yámana in Händen halten würde.

Der heilige Gral unter den Wörterbüchern

Dieser Meinung ist auch Ferdinand Hestermann, Experte für Völkerkunde und Dank Inselbegabung Kenner von mehr als 100 Sprachen, die andere Hauptfigur des Romans. Durch Zufallsgeschicke fällt Hestermann das Wörterbuch Bridges in die Hände, nur wenige Blicke hinein bedarf es dem leicht verschrobenen Sprachexperten, um zu erkennen, welchen Schatz, ja, welch „philosophischen Gral“, wie er es selbst bezeichnet, ihm da zugefallen ist. Den einzigartigen Schatz, von dem leider schon zu viele erfahren haben, zu teilen – schon allein sich dies vorzustellen, fällt ihm mit jedem weiteren Blick in das Wörterbuch, immer schwerer. Bald schon nimmt Hestermann das Buch mit dem auffälligen blau-rot marmorierten Einband sogar mit ins Bett, um ruhig schlafen zu können, trägt es tagsüber stets bei sich, am Leibe, in den Hosenbund gesteckt, um bei jeder Gelegenheit hineintauchen zu können; ist natürlich kaum gewillt, es vorzuzeigen, zumal allzeit von der dunklen Vorahnung gepackt, es könnte ihm einst entrissen werden. Dieses Szenario scheint ihm mehr denn je Realität zu werden, als Anfang der 1930er die Nationalsozialisten die Macht übernehmen und unter anderen damit beginnen, Bibliotheken nach ‘guten‘ und ‘schlechten‘ Büchern zu durchforsten. Wild entschlossen, das Buch um jeden Preis vor einem Zugriff zu bewahren, begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise in die Schweiz, um dort einen sicheren Platz für seinen Schatz finden zu können…

All dies mag einen zu dem Irrglauben verleiten, diese Biografie eines Wörterbuch sei nur etwas für Leser mit einem profunden Faible für Sprach- und Völkerkunde, gar eine trocken-staubige Nacherzählung einer jener Geschichten, die so wenig reizvoll sind wie der viel beschworene ‘alte Hut‘. Allerdings ließe man sich dann einen wunderbar geistvollen Abenteuerroman mit erstaunlich einnehmendem Lesecharme entgehen. Denn so schmal die kondensierte Geschichte von „Feuerland“ vielleicht ausfallen mag, zeigt dieses Buch doch einmal mehr, was einen Roman erst zu einem großartigen Roman werden lässt: wenn dieser von einem begnadeten Erzähler präsentiert wird. Und Michael Hugentobler darf sich dieses Attribut ganz ohne falsche Zurückhaltung anheften lassen. Während man sich dem von ihm erzeugten, mitunter märchenhaft anmutenden Lesesog, dem Esprit seiner Phantasie und Beobachtungsgabe hingibt, ertappt man sich immer wieder, wie man beinahe zwangsläufig nach anderen Autoren sucht, die mit ihren Geschichten ähnlich begnadet zu bezaubern wissen – und landet wie es der Zufall will, am ehesten doch bei seinen beiden großen Landsmännern Robert Seethaler und Christoph Ransmayr, mit denen ihn einem Satz genannt wissen möchte. Kurzum: Hugentobler steht ab sofort synonym für Lesefreuden.

Nachwort für den Thüringer: Der Lebensweg Ferdinand Hestermann endete übrigens in Jena. Als Professor für Allgemeine Sprach- und Kulturwissenschaft lehrte er an der dortigen Universität und blieb der Saalestadt auch über seine Emeritierung hinaus bis zu seinem Tod 1959 treu. Manch sehnsüchtiger Gedanke dürfte während dieser Zeit gen London gerichtet gewesen sein: Dort, im British Museum hatte sein Schatz, Thomas Bridges „Wörterbuch der Yámana“, seinen vorläufig endgültigen Bestimmungsort gefunden..