Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände weiterhin empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Kate Harris: »Auf der Seidenstraße«
Von einer, die auszog, sich selbst zu finden
Wenn man schon von klein auf an das Gefühl hat, mit dem Entdecker-Gen infiziert zu sein, ist es eigentlich kein Wunder, wenn es einen, kaum ist man der Kinderstube entwachsen und flügge geworden, hinaus in die weite Welt – und mitunter sogar noch weiter, also darüber hinaus treibt. Die Kanadierin Kate Harris (Jahrgang 1982) ist eindeutig so ein Fall, schon als Teenager träumt sie davon Entdeckerin zu werden und zwar gleich mit richtig großer Mission: die Reise zum Mars schwebte ihr vor. Nicht mal eben so aus einer jugendlichen Laune heraus, sondern tatsächlich schon irgendwie recht ernsthaft. Was irgendwie auch die Briefe widerspiegelten, die sie 1999 als 17-Jährige an verschiedene einflussreiche Staatschefs schickte, in denen sie manifestartig ihren Traum von einer Erkundung des Mars darlegte. Mit Blick auf das aktuelle Rennen um die Erkundung des Mars hat Kate Harris seinerzeit vielleicht tatsächlich etwas angestoßen, sie selbst erhielt allerdings nur halbherzige Formbriefe als Antwort.
Den Roten Planeten verlor Harris deswegen nicht komplett aus den Augen, in der Folgezeit erkannte sie aber zunehmend, welch entdeckenswerte Seiten der eigene Planet, unsere Erde, für denjenigen bzw. diejenige, die sich aufmacht, zu offenbaren hat. Die legendäre Seidenstraße etwa. Vor allem jene Gegenden links und rechts der legendären historischen Handelsstraße, die in den Reisebeschreibungen Marco Polos nicht gut wegkamen, reizten Harris. Das Pamir-Gebirge, um das Polo einen Bogen gemacht hatte, genauso wie die Wüste Taklamakan, die der mittelalterliche Handelsreise seinerzeit so weit wie möglich umging und insbesondere auch das Tibetische Hochland, das Polo bei seiner Durchreise im 12. Jahrhundert als verdorben-wildes Ödland abtat. Harris entschließt sich zu einer „Pilgerreise in die Wildnis, die Marco Polo am meisten gefürchtet und gemieden hatte“ – allerdings nicht wie der mittelalterliche Handelsreisende zu Pferd oder Kamel, sondern per Rad. Die Eltern, mit dem Entdecker- und Abenteuerdrang ihrer Tochter bereits vertraut, haben nur einen Wunsch: Sie solle doch bitte nicht allein reisen.
Also zieht Kate Harris auf ihren ‘kleinen Radausflug‘ gemeinsam mit ihrer nicht minder abenteuerfreudigen Freundin Mel los. Im Sommer 2006 durchfahren sie den Pamir, die Taklamakan und dann, in aller Heimlichkeit, da schon damals von chinesischer Seite aus verboten, bis weit ins Tibetische Hochland hinein. Trunken vor Abenteuer und Straßenstaub fassen sie noch auf dem Rückweg in die kanadische Heimat, auf dem Weg zurück zu Normalität und Alltag, den Entschluss, eines Tages, also möglichst bald auf die Seidenstraße zurückzukehren und diese dann nicht nur auszugsweise, sondern in kompletter Länge zu befahren.
Fünf Jahre später, im Frühjahr 2011 ist es dann schließlich Zeit für den zweiten Anlauf: Das Radabenteuer der beiden Kanadierinnen nimmt von Istanbul aus erneut seinen Gang auf. Im Schneetreiben erklimmen Kate und Mel die Höhen des Kaukasus, im hitzigen Frühsommer durchfahren sie die weitläufigen Landschaften Zentralasien, im Spätsommer erreichen sie endlich wieder das Tibetische Hochland und im Herbst schließlich Indien.
Reise voller Entbehrungen und Selbsterkenntnis
Das von Kate Harris im Nachgang verfasste Buch „Auf der Seidenstraße“ entpuppt sich dabei bei weitem nicht nur ‘nur‘ als eine faszinierenden Beschreibung einer 13.000 Kilometer langen Fahrradreise zu zweit, abenteuerlich, voller Entbehrungen und Begegnungen, durch die entlegensten Regionen Asiens, sondern zugleich auch als eine intensive, vielschichtige Auseinandersetzung der Autorin. Zum einen mit der Geschichte, Gesellschaft oder Politik der Umgebung, die sie und ihre Gefährtin jeweils gerade durchqueren. Zum anderen aber auch mit sich selbst und den Lebensfragen, die ihr unter den Nägeln brennen. Wer bin ich? Wer will ich sein? Wo will ich hin – wenn nicht zum Mars? Im Leben und überhaupt? Je näher die beiden Radlerinnen ihrem gesteckten Ziel kommen, desto mehr zeichnet sich für Harris ab, dass sich auf dieser Radreise etwas grundlegend in Sachen Lebenseinstellung in ihr verändert hat und sie definitiv nicht in ihr altes Leben zurückkehren wird… Die feinfühlige und selbstreflektierte Art und Weise, in der die Autorin dabei ihr eigenes Seelenleben offen legt, mag für den Leser, der ‘einfach‘ nur eine mitreißende Reisebeschreibung voller Sensationen und Abenteuer erwartet hat, zunächst etwas überraschen, wer sich auf darauf einlässt, wird jedoch schnell entdecken, dass Kate Harris‘ Auseinandersetzung mit sich selbst nicht minder bewegend ist als die enthusiastische Beschreibung ihrer Tour entlang der Seidenstraße. Lohnt sich.