Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Nicolas Fink: »Eine unerhörte Auswahl vergessener Wortschöpfungen aus Johann Jakob Sprengs gigantischem, im Archive gefundenen, seit 250 Jahren unveröffentlichten deutschen Wörterbuch«
Ein Buchprojekt, das unsere Sprachwelt hätte ändern können
Einen krassen Fall von „hätte, hätte, Fahrradkette“ – entschuldigen Sie bitte den Kalauer – präsentiert dieses Frühjahr der auf das schöne, bibliophile und neuentdeckenswerte Buch spezialisierte „Verlag das kulturelle Gedächtnis“ mit der Sprachschatzsammlung „Eine unerhörte Auswahl vergessener Wortschöpfungen aus Johann Jakob Sprengs gigantischem, im Archive gefundenen, seit 250 Jahren unveröffentlichten deutschen Wörterbuch“. Der Titel nimmt es bereits vorweg: Hätte der Basler Gelehrte Johann Jacob Sprengs (1699-1768) es zeitlebens geschafft, sein Mammutprojekt, das ‘Glossarium Teutonicum‘ zu veröffentlichen, wäre dieses mit seiner Gesamtzahl von annähernd 100.000 Einträgen nicht nur das umfangreichste Wörterbuch seiner Zeit geworden, sondern hätte ohne Zweifel ähnlich wie das Grimm’sche Machwerk einige Jahrzehnte später auch maßgeblichen Einfluss auf die (Weiter)Entwicklung der deutschen Sprache genommen. Unter anderem schon deshalb, weil seine Sammlung einen ganzen Korb voller sinnfälliger und lautmalerischer Wortschönheiten enthält, die nicht einmal im umfangreichen Machwerk der hessischen Märchenbrüder auftauchen – etwa „Hirnpfläumlein“ statt „Zirbeldrüse“, „Hillebill“ für „Kopfstand“, „Slabberbüdde“ für „Plaudertasche“, „Lederlapp“ anstelle von „Fledermaus“, „Rabenkoch“ statt „Scharfrichter“, „Immentrost“ statt „Honigwachs“, „eichel“ statt „gut“, „anpurren“ statt „lehren“, „Stiefauge“ für „Sehhilfe“ oder „Cockainea terra“ statt „Schlaraffenland“.
Hätte Goethe das Sprengs’sche Wörterwerk gekannt und zur Verfügung gehabt, wäre sein bekanntes Hymnengedicht „Das Göttliche“ von ihm vielleicht auch mit einer ganz anderen Wortpracht ausgestattet worden. Dann würde es eben nicht heißen: „Edel sei der Mensch,/Hülfreich und gut! …“, sondern „Lebherzig sei das Gaufkind, wedelich und eichel! …“ – und wir würden dieses vermeintliche Kauderwelsch sogar verstehen.
Ja: hätte. Hätte der Wörtersammler Sprengs sich nicht so verzettelt, ein Ende und, mehr noch, einen Verleger gefunden; wäre er nicht gestorben, ohne sein Lebenswerk vollendet zu haben.. – Es blieb beim ‘hätte‘: Das Manuskript-Konvolut – zwanzig dickleibige, handgeschriebene Bände plus eine Schachtel mit 33.000 Zetteln – verschwand in der Folge den Archiven der Basler Universität, wo es ein gutes Vierteljahrtausend lang seiner Wiederentdeckung harrte. Diese übernahm in persona vor wenigen Jahren der Basler Germanist Heinrich Löffler, der den philologischen Wert seiner Entdeckung sofort erkannte und sich umgehend daran machte, zusammen mit vielen helfenden Händen eine Gesamtausgabe von Sprengs „Allgemeinem Deutschen Glossarium“ zu erstellen. Diese soll, so die derzeitige Ankündigung, noch im Laufe dieses Jahres erscheinen – bescheidene 5.000 Seiten umfassend.
Perlenauslese
Um auf das bereits jetzt im Verlag „Das kulturelle Gedächtnis erschienene Buch „Eine unerhörte Auswahl vergessener Wortschöpfungen aus Johann Jakob Sprengs gigantischem, im Archive gefundenen, seit 250 Jahren unveröffentlichten deutschen Wörterbuch“ zurückzukommen: Auch der Sprachenthusiast Nicolas Fink hörte von der Wiederentdeckung der umfassenden Wörtersammlung, stieg ebenfalls ins Basler Archiv hinab – und beschloss angesichts der Wortpracht, der er dort begegnete, die interessantesten Artikel und anmutigsten Sprachperlen aus Sprengs‘ Sammlung herauszupicken, sorgsam zu transkribieren und daraus eine Art „Best-Of“-Strauß zu binden.
Und so können wir nun, das Auslese-Ergebnis von Nicolas Fink in Händen bzw. vor Augen haltend, uns auf gut und gern 365 Seiten an zahllosen Wörtern (nebst original Sprengs’schen Erläuterungen) erfreuen, die mal einfach nur schön zu lesen und auszusprechen sind, mal geradezu danach zu rufen scheinen, umgehend wiederbelebt zu werden – in jedem Fall aber eine willkommene Auffrischung unseres Sprachalltags darstellen. Wie alle Veröffentlichungen des Verlags „Das kulturelle Gedächtnis“ mit besonderer Hingabe ans grafische Erscheinungsbild gestaltet, gewährt auch dieser Band nicht nur Lesegenuss, sondern ebenso bibliophilen Augenschmaus und dürfte damit längst nicht nur für den Sprachbegeisterten einen Edelstein im Bücherschrank darstellen, von dem man einfach nicht die Finger lassen kann…