Lesestoff für die Frühlingszeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände weiterhin empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Judith Vanistendael: »Penelopes zwei Leben«

Kollidierende Lebenswelten

Judith Vanistendael: „Penelopes zwei Leben“
Reprodukt, 176 Seiten (geb.)

Wie die meisten Erwachsenen hat auch Penelope ein Berufs- und ein Privatleben. Anders als bei den meisten Menschen sind diese bei Penelope jedoch beinahe sprichwörtlich Welten voneinander getrennt. Im Grunde wie Licht und Schatten: Denn einerseits ist Penelope daheim in ihrer belgischen Heimat liebende Ehefrau und Mutter einer Tochter, die gerade schwer mit den Problemstellungen der Pubertät zu kämpfen hat, andererseits von Berufs wegen als Chirurgin für die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ dort auf der Welt im Einsatz, wo sie dringend gebraucht wird – und das ist allzu häufig an den schlimmsten Krisenorten dieser Welt. Eben noch ist sie im syrischen Aleppo, eben noch kämpft sie im Horror der jegliche Normalität überschreitenden Kriegsrealität im Nonstop-Einsatz um jedes einzelne Leben, das ihr schwerstverletzt und bombenzerfetzt ins Zeltlazarett gebracht wird, eben noch muss sie miterleben, wie eine junge Frau im Alter ihrer eigenen Tochter vor ihren Augen auf dem OP-Tisch stirbt – um im nächsten ‘Augenblick‘, nur wenige Tage später und ein paar Flugstunden entfernt, wieder in der vertrauten Sicherheit ihrer Heimat anzukommen. Hier warten und umhüllen sie zwar schnell wieder all die Vertrautheiten eines beschaulichen Mittelstandslebens mit Familie, Haus und grünem Garten.

Doch Penelope merkt recht bald, dass sie kein Automat, sondern ein Mensch ist – dass ihre vermeintlich heile Welt, die sie in Brüssel hat, nicht unbeeinflusst von jener Welt bleibt, die sie als ‘Ärztin ohne Grenzen‘ erlebt. Und so bleibt der rote (Erinnerungs)Geist jener Aleppo-Toten, der sie nicht mehr helfen konnte, auch Tage und Wochen nach ihrer Rückkehr aus Syrien wie ein Albdruck noch immer präsent – ist da, wenn Penelope mit ihrer Familie beim Frühstück beisammensitzt, ist da, wenn sie vorm Weihnachtsbaum steht, ist da, wenn sie sich abends ins Bett legt. Und auf der anderen Seite hat auch ihre Familie eigene Wünsche und Forderungen an sie, denen sie sich stellen möchte, stellen muss: Der brummbärig-liebevolle Mann und Vater, der ihr zwar gern den Rücken frei hält und sich um alles kümmert, während sie wieder einmal für Wochen und Monate unterwegs in der Welt ist, aber nicht mehr sicher ist, ob er die Kraft und den Willen aufbringt, dies auch noch ewig so fortzuführen. Die 14-jährige Tochter, die zwischen erstem Liebeskummer und erster Monatsblutung gefangen, sie, die Mutter, als Bezugsperson sucht und braucht. Die eigene Mutter, die sich um das seelische Wohlergehen ihrer Tochter sorgt.

Sensibel und doch eindringlich erzählte Bildergeschichte

In mitunter zart anmutenden Aquarellbildern erzählt Judith Vanistendael Graphic Novel „Penelopes zwei Leben“ zwar behutsam, aber mit gleichzeitig spürbarer inhaltlicher Wucht von der Gleichzeitigkeit zweier unvereinbarer Welten, die in der Figur der Ich-Erzählerin Penelope heftig aneinander geraten. Angesichts jenes blutroten Aleppo-Geistes, der ihr nicht aus den Gedanken weichen will, fühlt diese sich drängend und unmittelbar damit konfrontiert, die Vereinbarkeit ihres aktuellen Lebensentwurfs zu hinterfragen. Einerseits droht dieser ein immer größeres Loch in ihr Privatleben und sie möglicherweise sogar völlig aus der Bahn zu reißen, andererseits weiß sie nur zu gut um die Not der Menschen in den Krisengebieten dieser Welt, die auf genau die Hilfe, die sie geben kann, angewiesen sind…

„Penelopes zwei Leben“ ist eine eindringlich erzählte Bildergeschichte, die es in ihrer zurückgenommenen Gestaltungsweise vermag, weit über Konflikt, den die Ärztin und Mutter mit sich austrägt, hinaus zu verweisen: auf einen Bürgerkrieg, der schon so lange andauert, dass dessen Existenz längst aus unseren mitteleuropäischen Alltagsbefindlichkeiten entschwunden ist – und nur dann wieder an Präsenz gewinnt, wenn Geflüchtete aus dieser Kriegsregion an unseren Außengrenzen in Lager wie Moria geraten, die sie zu einem derartig unfreien und unwürdigen Dasein verdammen, dass ihr verzweifelter Aufschrei tatsächlich wenigstens für einen Moment bis nach Mitteleuropa durchzudringen vermag. Lesenswert.