Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Giulia Caminito: »Ein Tag wird kommen«
Zwei Brüder, unzertrennlich …
Giulia Caminito holt den Lesenden ihres jüngsten Romans »Ein Tag wird kommen« so unvermittelt wie effektiv ab — mit einem Schuss: Im Wald steht Nicola, blass und zitternd, und hält ein Gewehr auf seinen Bruder Lupo gerichtet. Bevor er abdrückt, bittet er ihn noch um Verzeihung… Diese rätselhaft anmutende Prolog-Szene wird später im Verlauf der Erzählung natürlich noch aufgelöst werden, bis dahin hat uns die in Italien seit längerem für ihr herausragendes Erzähltalent gepriesene Autorin aber schon längst weit in der Zeit zurück, tief hinein in ihre Geschichte geführt.
Serra de’ Conti, ein kleines Dorf in den italienischen Marken Anfang des 20. Jahrhunderts, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Hier lässt Caminito zwei Brüder aufwachsen, Nicola und Lupo Ceresa, deren Leben wie auch die Leben nahezu aller anderen Einwohner des Dorfes von harter körperlicher Arbeit geprägt ist. Als Halbpächter plagen sie sich tagein, tagaus auf den Feldern, in den Weinbergen und Olivenhainen, um am Ende doch wieder einen erheblichen Teil ihrer Ernte an den allmächtigen Padrone abgeben zu müssen. An eben jenem Machtgefüge hat Lupo, Sohn des Bäckers Ceresa, zu sägen begonnen. Aufsässig wie sein Großvater Giuseppe schließt er sich bereits in jungen Jahren den Anarchisten an, kämpft gegen die fortwährenden Ungerechtigkeiten der Mächtigen und die Bigotterie der Kirche. Daheim kümmert er sich überdies fürsorglich um seinen Bruder Nicola, beschützt diesen, der immer ängstlich und von zarter Natur so ganz anders geraten ist als er selbst, gegen alles und jeden. Doch gerade dieses Band zwischen den beiden Brüdern droht in Zeiten des aufkeimenden Faschismus zunehmend Risse zu bekommen — ausgerechnet wegen einer Lüge, die schon viel zu lange hinter Klostermauern versteckt liegt …
Kaleidoskopartig und in Sprachbildern von karger Schönheit erzählt Giulia Caminito die dramatische Geschichte zweier ungleicher Brüder, die im Glaube an eine bessere Zukunft in einen Strudel aus Anarchie und Schuld, Liebe, Hingabe und Verrat, Krankheit und politischen Umsturz geraten — und alles auf einen Schuss in einem dunklen Wald hinausläuft. Lektüretipp.