Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Frank Schmolke/Marc O. Seng: »FREAKS. Du bist eine von uns«
Intensiv und unheilschwanger
Frank Schmolkes Graphic Novel „Nachts im Paradies“ war zweifellos eine der intensivsten Comic-Erfahrungen des vergangenen Jahres: Mit Tusche und Brush-Pen gezeichnet und in expressiven, stark verdichteten S/W-Bildern angelegt, die die Wirkmächtigkeit eines Film noir entfalten, erzeugte seine abgründige Geschichte eines Taxifahrers, dessen Leben innerhalb von drei Nächten völlig aus dem Lot gerät, einen gleichermaßen visuell wie auch erzählerisch enorm dichten Lesesog. Das fand auch Marc O. Seng, Schöpfer der vermeintlich ersten deutschen Superhelden-Netflix-Serie „FREAKS“ und fragte bei Schmolke an, ob dieser sich vorstellen könnte, parallel zur Filmfassung eine eigenständige Graphic Novel zu entwickeln. Schmolke, der nach eigenen Worten mit dem Superheldengenre, wie es in Amerika zelebriert wird, gar nichts anfangen kann, sagte tatsächlich zu – unter der Voraussetzung, dass er seine Version der „FREAKS“-Geschichte völlig unvereinnahmt allein auf Grundlage des Drehbuchs angehen dürfe, also ohne die Serie auch nur ausschnittweise gesehen zu haben – und auch ohne die Verpflichtung, eine mit dem Original identische Version zu entwickeln.
Eine gute Entscheidung, die, wie sich nun im jüngst veröffentlichten, gut 260 Seiten starken Comic zeigt, ein mehr als überzeugendes Ergebnis hervorgebracht hat: Mit kantigem Zeichenstil, knappem Strich und einer rohen Schwarz-Weiß-Anmutung, die nahezu durchweg von dunklen Schatten dominiert ist, erzählt Schmolke die Geschichte von Wendy – einer jungen Mutter, deren Leben seit Jahren von Psychopharmaka und Therapeutenbesuchen geprägt ist, die jedoch, als sie die Medikamente dann doch einmal absetzt entdeckt, dass dies unterdrückte Superkräfte in ihr freilegt, an denen sie schnell Gefallen findet – als urbane, wuchtig-düstere Superhelden-Mär mit sozialkritischen Anleihen, die weit davon entfernt ist, sich der gängigen klaren Trennung zwischen Gut und Böse zu unterwerfen. Völlig anders also als die klassischen Erzählungen vom maskierten Weltenretter, erwachsener auch als das poppig-bunte Netflix-Original. Bei der mitreißenden Wirkung, den diese Graphic Novel entwickelt, zu guter Letzt wahrscheinlich sogar die bessere Version.