Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Annie Ernaux: »Die Scham«

Befreiende Selbsterkundung

Annie Ernaux: „Die Scham“, Suhrkamp Verlag, 110 Seiten (geb.)

Wie der Großteil ihres literarischen Gesamtwerks ist auch der 1996 fertig gestellte und jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlichte Roman „Die Scham“ von Annie Ernaux stark autobiografisch geprägt. So manch unliebsame Kindheits- und Jugenderfahrung mögen der 1940 als Tochter zweier einfacher Leut (ungelernte Arbeiter mit kleinem Ladengeschäft und angeschlossenem Café) geborenen und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsenen französischen Schriftstellerin Anlass gewesen sein, in ihren Büchern grundsätzlich mit einem „Gedächtnis der Scham“ auf ihre persönliche Vergangenheit zurückzublicken. In dem 1996 fertig gestellten und jetzt bei Suhrkamp erstmals auf Deutsch veröffentlichten Roman wird die Scham jedoch zur letzten, ultimativen Wahrheit – die unmittelbar an ein über 44 Jahre zurückliegendes, singuläres Ereignis mit geradezu traumatischer Wirkung gekoppelt ist: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Wieder einmal hatte diese, so die eindrückliche Erinnerung Annie Ernaux‘, den vor sich hin schweigenden Vater unnachgiebig und anhaltend mit Nörgeleien bedacht, so lange, bis dieser vom Tisch aufsprang, seine Frau in die Vorratskammer zerrte, dort nach dem Beil auf dem Hackklotz griff – und glücklicherweise in letzter Sekunde doch noch zur Besinnung kam.

Gleich einer Zäsur besiegelte jener Beinahetotschlag von einem Tag auf den nächsten ihre Kindheit. Bis zu jenem 15. Juni 1952 waren für die kleine Annie alle Tage kindgerecht gleich schön und von wunderbar gleichförmiger Kontinuität geprägt – dieser Sonntag jedoch lässt sie das weitere Zusammenleben mit den Eltern zutiefst erschüttert und bodenlos „schambesetzt“ erleben. Gerade auch, weil sowohl Vater als auch Mutter beinahe sofort in die scheinbare ‘Normalität‘ allsonntäglicher Gewohnheiten zurückkehren, beinahe so, als ob überhaupt nichts vorgefallen sei: „Hinterher machten wir zu dritt eine Radtour aufs Land. Nach unserer Rückkehr öffneten meine Eltern wie jeden Sonntagabend die Kneipe. Wir haben nie wieder über den Vorfall gesprochen.“

Erst 44 Jahre später ist Annie Ernaux imstande, sich jenem Vorfall wieder zu nähern – und es ist trotz (oder gerade wegen) der ihr so eigenen, nüchtern-trockenen, sehr präzisen Erzählweise ergreifend mitzuerleben, wie sie das Geschehen von damals, das ihr ganz offensichtlich auch fast ein halbes Jahrhundert immer noch zusetzt, nun mit gereifterem Blick und in einem geweiteten Kontext, neu aufleben lässt, um es in einem Akt schonungsloser Selbsterkundung endlich mit all jenen persönlichen Gefühlen zu besetzen, die es ihr seinerzeit nicht möglich war, zum Ausdruck zu bringen.

„Die Scham“ ist ein weiterer wichtiger Baustein in Annie Ernaux‘ breit angelegter biografischer Spurensuche, der in seiner befreienden Vereinigung von Erinnerung und Reflexion eine berührende, intensive Lektüre offenbart.