Lesestoff für die Dunkelzeit

524

Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Jan Koneffke: »Die Tsantsa-Memoiren«

Meisterstück an Fabulierkunst

Jan Koneffke: „Die Tsantsa-Memoiren“
Galiani Berlin, 556 Seiten (geb.)

Was hat es nicht schon alles für ungewöhnliche Erzählerfiguren gegeben: Tote, Tiere, Steine, Pflanzen… und jetzt: ein Schrumpfkopf. Auf solche eine Idee muss man erst einmal kommen – aber schließlich muss es ja auch seinen Grund haben, dass Koneffke längst zu den profiliertesten Fabulierern im Lande gezählt wird. Und was er uns mit „Die Tsantsa-Memoiren“ vorgelegt hat, dürfte zweifellos eine der ungewöhnlichsten Romane der letzten Jahre sein, der derart proper mit Phantasie, Sprache und Irrwitz gefüllt ist, dass die Leselust bereits aus allen Seiten des Buches hervorfunkelt, wenn man dieses nur in Hand nimmt. Nennen wir es ruhig beim Namen: Jan Koneffkes neueste literarische Schöpfung weiß zu begeistern, sehr sogar. Was irgendwie auch der eingangs erwähnten, ziemlich speziellen und durchaus auch vereinnahmenden ‘Erzählerfigur‘ dieser an magischen Momenten reichen Abenteuergeschichte der besonderen Art zu verdanken ist.

Besagter Schrumpfkopf erwacht um das Jahr 1870 zum Leben, nachdem er in den Besitz von Don Francisco, einem Beamten der spanischen Krone in Caracas gelangt ist. Von der Wand der Schreibstube herab beobachtet er passiv das Geschehen um ihn herum – bis es ihm dämmert, dass er über ein eigenes (Selbst)Bewusstsein verfügt, mehr noch, auch zu sprechen imstande ist. Don Francisco ist von dieser Erkenntnis des Tsantsas mehr als überfordert: Als dieser sich ihm das erste Mal zu erkennen gibt, wirft ihn ein Herzinfarkt umgehend aus dem Leben. Was für Don Francisco das Ende bedeutet, ist dem munter vor sich hin erzählenden Schrumpf nur das erste Kapitel einer wahrhaftig epochalen Reise, die ihn unter anderem nach Rom, Paris, Frankfurt, Bamberg, Bukarest, Wien und Berlin führt und wird zum Zeuge vieler kleiner und  auch so manch großer Ereignisse, die die (europäische) Welt in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten bewegen würde. Mal wird er als unscheinbarer Spion eingesetzt, mal als Familienmitglied adoptiert; mal hält er revolutionäre Reden, mal soll er den Todesmut junger Nazis beflügeln; mal hängt er aber einfach nur gelangweilt in einem Museum herum. Bis der nächste Schicksalsschlag ihn der Fürsorge eines neues Besitzers zuführt – und danach dem nächsten und dem nächsten. Bei all dem bleibt dem unsterblichen, da mustergültig mumifizierten Schrumpfkopf natürlich genug Zeit, um sich ausgiebig auch seiner eigenen Werdung zu erinnern und die Geschichte seines einstmals ganzkörperlichen Vorlebens vor uns, den Lesenden feinhumorig auszubreiten, die begierig an seinen trockenen Erzählerlippen hängen.

Versuchen Sie ruhig, dieses „Memoiren“ nicht in einem Schwung zu lesen – es wird Ihnen genauso wenig gelingen wie diesen faustgroßen Ich-Erzähler nicht zu mögen…