Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Robert Seethaler/Sebastian Rether (Ill.): »Der letzte Satz«
Ein Buch voller Melancholie und Schönheit
Frühjahr 1911: Ein Mann, gerade einmal 50 Jahre alt, aber älter, irgendwie zerbrechlich, vielleicht auch schon etwas zerbrochen wirkend, sitzt an Bord eines Ozeandampfers, der ihn von New York nach Bremen bringt, gut eingehüllt in ihn wärmende Decken auf einer eisernen Kiste und blickt auf das Meer hinaus, das ihm sein mal ewig gleiches, mal unglaublich facettenreiches Antlitz zeigt. Er sitzt schon lange hier, seit Stunden, fühlt sich nicht hungrig, aber schwach, fiebrig, aber doch klaren Kopfes, will einfach nur sitzen und beschauen, den Sonnenaufgang, den Sonnenuntergang. Gern auch die Fliegenden Fische, von denen er gehört hat. Vor allem aber will er seinen Gedanken und Assoziationen nachhängen, Erinnerungen aufleben lassen – an die vielen großen sowohl strahlend hellen als auch abgründig dunklen Momente in seinem Leben, denen er besondere Bedeutung beimisst: an die Musik, die ihm seit Kindheitstagen alles ist, alles bedeutet. An seine Rolle als weltweit gefeierter Dirigent, Operndirektor und Komponist mit eigenem Komponierhäuschen. Natürlich auch an sein Dasein als Ehemann und Vater zweier Töchter, der seine Familie zwar liebt, aber doch bedingungslos seiner Musik unterordnet und dafür von seiner fast 20 Jahre jüngeren Frau, des ewigen Wartens auf ihn überdrüssig geworden, irgendwann die Quittung kriegt. Und unvermeidlich auch an Begegnungen mit dem Tod, der ihm, quasi in Ankündigung eines frühen Ablebens, nicht nur schon sein halbes Leben lang fortwährend und wiederkehrend mit Krankheiten, Übel und Gebrechen plagt, sondern auch schockierend brutal eines seiner Mädchen entreißt – und ihm nun auf dieser Schiffreise nach Europa so nahe gerückt ist, dass er ahnt, dies könne seine letzte Reise überhaupt werden…
Es ist niemand anderes als Gustav Mahler, bedeutender Komponist der Spätromantik, den der österreichische Erfolgsautor Robert Seethaler („Der Trafikant“) hier in seinem jüngsten Roman „Der letzte Satz“ fiebrig frösteln und herzkrank auf dem Sonnendeck der „SS Amerika“ auferstehen lässt, um uns an der großen Gedankenumschau und Erinnerungsrevue des berühmten Komponisten teilhaben zu lassen. Wie Seethaler das macht, steht in Sachen erzählerischer Genialität wohl nur unwesentlich den großen Sinfonien Mahlers nach: mit einer leise-poetisch und sehr präzisen Sprache, die so schön wie schlicht und so elegant wie leichtfüßig ist, dass man – selbst wenn man sich noch nie mit Mahler, seiner Musik oder Leben befasst hat – kaum anders kann als sich der grandios ausbalancierten Melancholie dieses Erinnerungsreigen genussvoll hinzugeben, der einen in einem Guss bis zur letzten Seite, bis zum letzten wohlplatzierten Satz führt. Wer den Lesegenuss dieses perfekt komponierten, feinen kleinen Romans noch erhöhen will, sollte unbedingt zur unlängst in der Büchergilde erschienenen Lizenzausgabe des Werks greifen. Zurückhaltend, aber höchst eindrücklich ergänzt hierin der Illustrator Sebastian Rether die Erzählung um 16 Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die als grafisches Pendant zu Seethalers Erzählweise das abrundende und höchst willkommene gestalterische Tüpfelchen auf dem „i“ in diesem unbedingt lesenswerten Buch bilden.