Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Pieter Waterdrinker: »Tschaikowskistraße 40«

Grandioser Rundumblick ins Russland von Gestern und Heute

Pieter Waterdrinker: „Tschaikowskistraße 40“ Matthes & Seitz Berlin, 392 Seiten (geb.)

Pieter Waterdrinkers „Tschaikowskistraße 40“ darf sich ohne Zweifel zu jener Sorte Roman zählen lassen, die ihre Leserschaft ziemlich unmittelbar gleich auf der ersten Seite abholen, ja erzählerisch geradezu überschwänglich bei der Hand nehmen und in die nachfolgende Handlung einführen: Eines Tages im Jahre 1988 klingelt ein ihm unbekannter Mann im braunen Regenmantel an der Tür von Pieter Waterdrinker – wohnhaft in einem kleinen niederländischen Ferienort und mit seinen 26 Jahren gerade in einem postadoleszenten ‚Karriereloch‘ festhängend – nicht etwa, um ihm das neueste Staubsaugermodell oder die jüngste holländische Käsekreation schmackhaft zu machen, sondern um ihn davon zu überzeugen, mal eben 7.000 russische Bibeln für ihn nach Leningrad zu schmuggeln. Dem Ich-Erzähler erscheinen Mann und Auftrag so dubios, dass er sich kurioserweise tatsächlich auf dieses wahrhaftig nicht alltägliche Unterfangen spontan einlässt und wenig später als Schmuggler in die Sowjetunion begibt. Natürlich läuft nichts so wie geplant, dafür so abenteuerlich und skurril, dass der bibelschmuggelnde Holländer am Ende seiner schließlich irgendwie doch noch irgendwie glückenden ‘Mission‘ der alsbald neuerlich vom Regenmantel tragenden Missionar an ihn herangetragenen Bitte, weitere 80.000 russische Bibeln in die UdSSR zu schmuggeln, nur kurzzeitig ablehnend gegenübersteht – nicht ahnend, dass er mit dieser Zusage mehr oder weniger konkret den Bodensatz seines weiteren Lebenskurses festgelegt hat.

Mehrgleisige Erzählebenen

Indes offenbart das nachfolgende Kapitel nicht etwa die erwartete Fortsetzung der abenteuerlichen Schmuggelgeschichte, sondern einen abrupten Sprung in die Zukunft: Es ist das Jahr 2016, Pieter Waterdrinker lebt seit bald 30 Jahren in St. Petersburg. Mit Frau, ohne Kinder, dafür mit drei Katzen, in einer geräumigen Altbauwohnung im Herzen der Stadt – genau genommen in besagter, titelgebender Tschaikowskistraße 40. Die interessanterweise nicht etwa nach dem berühmten Komponisten, sondern nach einem zumindest jenseits der russischen Grenze völlig unbekannten Revolutionär benannt ist. Ja, Pieter oder nunmehr Pjotr Waterdrinker, die Ich-Erzählerfigur, ist nach St. Petersburg zurückgekehrt und geblieben. Über den einen oder anderen Umweg hat er die Laufbahn eines holländischen Schriftstellers mit Wohnsitz in Russland eingeschlagen, wobei es um deren Glanz gut 16 Jahre nach der Jahrtausendwende nicht allzu gut bestellt ist – mehr noch, Waterdrinker sich angesichts der Leere auf seinem Konto gezwungen sieht, den ihm von heimischen holländischen Verlag angebotenen Auftrag anzunehmen, anlässlich des bevorstehenden 100. Jahrestages der Russischen Revolution von 1918 eine kleine Aufarbeitung der Ereignisse von damals zu verfassen – die, so der Wunsch seiner Verlegerin, möglichst persönlich gehalten sein soll. Als 1961 geborener Mensch kann zwar weder Waterdrinker, der Autor, noch Waterdrinker, die Ich-Erzählerfigur, eine ureigenen Erinnerungen an jene Revolution vorweisen; als Bewohner eines Hauses, das zumindest geografisch im Zentrum der damaligen Umsturzbewegungen gelegen hat, fühlt er sich dennoch ohne Weiteres imstande, das gewünschte ‘persönliche‘ Buch vorzulegen. Sein Rezept hierfür gibt er großzügig kund: „Man musste lediglich das eigene Leben mit etwas Patina aufhübschen, sich mit großzügigen Quellenangaben an der Fülle dessen, was andere bereits aufgeschrieben hatten, bedienen und, wenn nötig, noch was hinzuerfinden, alles einmal durchquirlen, bis die Zutaten eine kräftig gebundene Suppe ergaben, und voilá: das Buch hatte sich sozusagen von ganz alleine geschrieben.“

Gut gewürzt, perfekt abgestimmt

Also beginnt Waterdrinker aus seinem eigenen Leben zu erzählen, fügt der vorangestellten Bibelschmuggel-Geschichte eine zweite hinzu, aus der er als Touristenführer für holländische Sowjetuniongäste geradewegs in jene Zeit des Umbruchs hineinstolpert, in der die altersschwächelnde UdSSR bereits recht offenkundig ihrem nahenden Ende entgegen strebte. Behände verknüpft er die abenteuerlichen Ereignisse und persönlichen Erlebnisse jener Untergangsjahre mit jenen geschichtsträchtigen Ereignissen der Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts, die 1918 die große Russische Revolution und in der Folge eben auch jene Sowjetunion hervorbrachte, deren Ende er gut 70 Jahre später selbst miterleben ‘durfte‘, springt zwischendurch zurück in seine 2016er Gegenwart und das damit verbundene Gesellschaftsbild und vermischt-verquirt all diese Zutaten – ganz wie in seiner Rezeptur vorgegeben – zu einer höchst persönlichen, überaus ausgelassenen, enorm inhaltsprallen, durchweg mitreißenden gedanklichen Reise durch die Gegenwart und Vergangenheit seiner Wahlheimat, an der teilzuhaben eine wahre Lesefreude ist. Zu lernen gibt es obendrein natürlich auch einiges – und wenn es nur die ‘Tatsache‘ ist, dass Geschichte sich nie wiederholt, wohl aber zu reimen weiß…