Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Leonhard Hieronymi: »In zwangloser Gesellschaft«

Kurzweiliges vom Friedhof

Leonhard Hieronymi: „In zwangloser Gesellschaft“, Hoffmann und Campe, 240 Seiten (geb.)

Es ist schon seltsam: Als Dichter, Philosoph, dichtender Philosoph oder philosophierender Dichter kann man zu Lebzeiten berühmt sein und auch Dutzende oder gar hundert(e) Jahre später für sein literarisches Werk noch in aller Munde sein (Ovid oder Seneca kennt man  zumindest dem Namen nach auch 2000 Jahre nach ihrer Zeit noch) – genauso gut aber auch infolge ausbleibenden Nachruhms schon wenige Jahre nach dem Ableben unter eine dicken Schicht des Vergessens verschwunden sein. Unser aller Johann Wolfgang von Goethe etwa liest und kennt man heute immer noch, manch einer weiß aus dem Stehgreif sogar seine Lebensdaten zu benennen, eine zu Leb- und Schaffenszeiten rund um den Globus millionenfach gelesene Autorin wie die Thüringerin E. Marlitt ist längst aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden, obwohl Goethe lange vor ihr gestorben ist.

Diesem ‚Erinnerungsmissstand‘ wird nun mit „In zwangloser Gesellschaft“ von Leonhard Hieronymi (Jahrgang 1987) eine recht spezielle Form der Würdigung zuteil. Im Debütroman des 33-jährigen gebürtigen Hessen, der als Mitglied der Literaturkollektivs Rich Kids of Literature in der Vergangenheit von sich reden machte, unternimmt ein junger Mann, dem Autoren nicht unähnlich, einen nun ja, nennen wir es Selbsterfahrungs-Roadtrip zu den verschiedensten Dichtergräbern in ganz Europa. Ausgehend von einem absonderlichen Erlebnis in Jugendjahren, bei dem er ausgerechnet in der weitläufigen Unterwelt der römischen Kallistus-Katakombe einen unbezwingbaren Lachanfall erlitt, beschließt der schriftstellerisch ambitionierte Ich-Erzähler, „eine Reise zu sowohl den Unsterblichen als auch den Vergessenen und den beinahe Entschwundenen zu unternehmen“ – zum einen, um Buße zu tun, zum anderne, um sich wie ein echter Fan auf dem Feld des literarischen Nachruhms auszutoben.

Über den Zeitraum eines ganzen Jahres hinweg reist er daher von Berlin bis Bukarest, von Hamburg bis Prag und von Frankfurt am Main bis Prag. Mal nimmt er klassische Ziele wie die Gräber von Bertolt Brecht, Anna Seghers, Heinrich Mann, Nietzsche, Novalis oder Ovid ins Visier, ein andermal wiederum ausgefallenere Grabstätten wie jene von Karl-Herbert Scheer in Friedrichsdorf (Erschaffer der „Perry Rhodan-Reihe) oder die des DDR-Kinderbuchautors Hanns Krause in Neuglobsow. Eingesponnen in das eine oder andere amüsante Reiseabenteuer liefert er dabei, ohne selbst so richtig zu wissen, was ihn eigentlich zu diesem nicht gerade unaufwändigen Unterfangen tatsächlich antreibt, einen so noch nicht dagewesenen Beitrag zur Sepulkralkultur, der in seiner nicht völlig grundlos an Christian Krachts legendären Roman „Faserland“ erinnernden abenteuerlichen Nonchalance wiederum eine unterhaltsame Gratwanderung zwischen staubfreiem Ernst und entstaubendem Humor, zwischen faktenreicher Dichterhuldigung und anekdotenreicher Selbst-Erkundung bereithält. Am Ende dieses schön erzählten, kurzweiligen, streckenweise sehr lustigen Stücks Popliteratur ist man als Lesender viel herumgekommen, hat viel Friedhofslandschaft gesehen und noch mehr gelernt (bei weitem nicht nur über die vom reisenden Erzähler besuchten Dichtergrößen) – und an manchen Stellen hoffentlich auch ziemlich lauthals gelacht – natürlich ohne Anfall.