Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Raphaela Edelbauer: »DAVE«

Halluzinatorische Endzeit-Vision


Raphaela Edelbauer: „DAVE“
Klett-Cotta, 432 Seiten (geb.)

Seitdem Konrad Zuse 1941 den ersten frei programmierbaren, vollautomatischen Computer der Welt fertiggestellt hat – sein „Z3“ vermochte binnen drei Sekunden zu multiplizieren, zu dividieren und auch die Quadratwurzel zu bestimmen – haben wir uns in gefühlter Windeseile von einem Meilenstein in der Computerentwicklung zum nächsten geschwungen. 1958 etwa gelang es Wissenschaftlern des Massachusetts-Instituts für Technologie in Cambridge, ihrem kleiderschrankgroßen Lochkartenrechner IBM 704 binnen Sekundenbruchteile die Kreiszahl Pi bis auf die 4.000ste Nachkommastelle genau zu entlocken – und markierten damit den Moment, in dem erstmals eine menschgemachte Maschine rechnerisch etwas vollbrachte, wozu kein Mensch je imstande sein würde. Knapp vierzig Jahre später, im Jahre 1997, geschah etwas ähnlich Denkwürdiges: der amtierende Schachweltmeister Garry Kasparow unterlag in insgesamt sechs Schachpartien dem IBM-Supercomputer „Deep Blue“ – ein Rechenprogramm war besser als der beste Schachspieler der Welt. Heute, wiederum fast 25 Jahre später, haben wir längst ‘akzeptiert‘, dass zumindest, was die Rechenleistung anbelangt, die Maschine uns längst das Wasser reichen kann, machen uns dies natürlich auch längst zunutze, um uns Alltags- oder Produktionsabläufe angenehmer und effizienter zu gestalten – ja, mehr noch, bemühen uns um die Fortentwicklung von Virtual Reality und künstlicher Intelligenz (KI), die, so die Vision, ein wesentlicher Bestandteil unserer Zukunft werden soll.

In Raphaela Edelbauers neuem Roman „DAVE“ ist diese – also eine von ihr erdachte, nicht näher bestimmte Zukunft bereits erreicht. In dieser hat sich die Menschheit in eine offensichtlich reichlich ausweglose selbstgemachte Misere befördert. Zu viele Menschen (100 Milliarden?), zu wenig Ressourcen und arge Klimaveränderungen, die das Leben auf der Erdoberfläche ziemlich ungemütlich gemacht haben. Die einzige Hoffnung, sich aus dieser Endzeitkulisse wieder heraus zu manövrieren, scheint in der Entwicklung eines archetypischen, mit eigenem Bewusstsein ausgestatteten, sich selbst optimierenden Supercomputers namens DAVE zu bestehen – der so rechenleistungspotent ist, dass er Lösungen schon bereithält, noch bevor das Problem selbst formuliert ist. Nahezu 120.000 Menschen leben eigens für das Erreichen dieses visionären Ziels in einem würfelförmigen, gigantischen, eine ganze Großstadt in sich vereinenden, fünfstöckigen Laborgebäude – ein jeder mit einer Aufgabe betraut, die mehr oder weniger direkt der Fertigstellung von DAVE, dem Heilsbringer dient. Allein ein Drittel seiner Bewohner geht tagein, tagaus keiner anderen Tätigkeit nach, als in Großraumbüros ellenlange SCRIPTs (also Schematas, Programmabläufe, Sprach- und Kommunikationsfertigkeiten, Reaktionsmöglichkeiten) zu erstellen und so dem Supercomputer all jene Fertigkeiten zu ermöglichen, zu denen Mensch von Natur aus imstande ist. Im Grunde fehlt es DAVE nur noch an jener beseelten Eingebung, an jenem Lebensfunken, den es braucht, um diesen aus der Daseinsstufe einer leblosen Frage-Antwort-Maschine herauszureißen und in eine mit eigenen Bewusstsein ausgestattete, allwissende, gottgleiche Singularität zu verwandeln. Und hier kommt Syz, die Hauptfigur des Romans ins (Handlungs-)Spiel.

Der Auserwählte

Auch für den 28-jährigen Syz bildete bislang die Programmierung von SCRIPTs die einzige, alltagsbestimmende Tätigkeit. Alles andere, was letztlich nicht viel mehr ist als essen und schlafen, ist dieser lebensausfüllenden Aufgabe untergeordnet. Wie Tausende seiner Laborkollegen fügt er sich diesem Rhythmus klaglos, in bedingungsloser Technikgläubigkeit, dem einen großen Ziele dienend. Bis er gleich zweifach aus seiner Alltagsroutine eines anonymen Niemands gerissen wird: Er verliebt sich in eine junge Ärztin, die so ganz anders aufzutreten weiß als die breite Masse. Und er rückt sprichwörtlich über Nacht ins unmittelbare Machtzentrum des Geschehens vor. Denn der Leiter des Zentrallabors, Dr. Fröhlich, hat aus allen 120.000 Bewohnern der Laborstadt, ihn auserwählt, DAVE den ‘Lebensfunken‘ einzuhauchen. Er, Syz, soll seine eigene Persönlichkeitsmerkmale, seine eigene Biografie, seine Erinnerungen und Vorlieben – also nicht weniger als seine gesamte Identität zur Verfügung stellen, um der künstlichen Superintelligenz endlich zur noch fehlenden, bewusstseinsgebenden Hülle zu verhelfen. Doch während er beginnt, Stück für Stück mehr von seinem Leben und seiner Persönlichkeit preiszugeben, gewinnt er gleichzeitig auch mehr und mehr Einblicke hinter die Kulissen des Labors beziehungsweise in das Getriebe der Dinge, die DAVE ausmachen und ist sich angesichts dessen, was er dort entdeckt, in zunehmendem Maße unsicher, ob der Megacomputer wirklich der Heilsbringer sein wird, der ihnen versprochen wurde…

Nach „Das flüssige Land“ hat Raphaela Edelbauer mit „DAVE“ erneut ein Romanwelt geschaffen, in der sie mit der ihr ureigenen, bestaunenswerten Sprachmacht eine Geschichte erzählt, die stetig zwischen Schein und Wirklichkeit, Vision und Dystopie, Absurdität und Grauen wandelt, gleichzeitig intellektuell enorm (heraus)fordert und ganz ‘nebenher‘ auf so subtiler Weise die Spannungsschraube anzieht, dass man sich dem Textgeschehen – ganz so, wie es sein soll – bis zum alles auflösenden, perfekt komponierten Ende nicht mehr zu entziehen weiß. Und zu guter Letzt dies Buch, das einem lange nicht aus dem Kopf gehen wird, aus voller Überzeugung weiterempfehlen möchte…