Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Stephan Lohse: »Johanns Bruder«

Unterwegs auf dem 52. Breitengrad

Stephan Lohse: „Johanns Bruder“, Suhrkamp Verlag, 243 Seiten (geb.)

Stephan Lohse, Jahrgang 1964, kannte man bis 2017 vornehmlich als Schauspieler mit Rollen in durchaus renommierten Schauspielhäusern in Berlin, Hamburg und Wien. Dann veröffentlichte er seinen Debütroman „Ein fauler Gott“ und ist seitdem landesweit ebenso als ziemlich talentierter, eigentlich durchweg lobgepriesener Autor mit gutem Gespür für Details und echte Gefühle und bekannt. Voller Empathie, mit anrührender Komik und gänzlich ohne Kitsch erzählt Lohse darin die Geschichte des fast zwölfjährigen Benjamin, der eigentlich voll mit seinem eigenen Leben zu tun hat – die Pubertät steht an… – sich nach Leibes- und Seelenkräften gleichzeitig aber auch darum bemüht, seiner Mutter über den Tod seines kleinen Bruders hinwegzuhelfen. Auch Stephan Lohses neuer Roman ist eine Familiengeschichte, allerdings ganz anderer Art. „Johanns Bruder“ erzählt in wechselnder Erzählperspektive von Johann und Paul, zwei Brüdern, die sich seit 28 Jahren nicht gesehen haben – und eine schwierige, sehr schwierige Kindheit teilen. „Unser Vater war bis zur Aufgabe seines Geschäfts Apotheker, unsere Mutter hat uns verlassen. Als Kinder haben wir an Gott geglaubt. Ich bin vier Jahre älter als Johann. Er spricht, ich bin stumm. Er ist homosexuell, ich bin es nicht. Ich verstehe einiges von Geografie und genauso viel von Geschichte, er nicht. Er ist von unserem Vater verprügelt worden, ich nicht. Ich war Zeuge, er war Opfer.“ Paul, der Ältere von beiden, ist es, der hier eine präzise Kurzzusammenfassung ihrer Bruderverhältnisses liefert. Seit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Mutter hat er kein Wort mehr mit seiner Umwelt gesprochen, alles, was er wahrnimmt, ihm durch den Kopf geht – und das ist viel – dafür niedergeschrieben, um es als umfangreiche Zettelsammlung seiner Gedanken- und Wahrnehmungswelt in mehreren Beuteln mit sich herumzutragen. Ihr Wiedersehen verdankt sich nicht dem Zufall – Johann, dessen bisheriges Leben auch nicht wirklich erfolgreich, vielmehr arg verstolpert verlaufen ist, erhält einen unerwarteten Anruf: Er möge Paul bitte aus einer psychiatrischen Klinik in Celle abholen. Sein Bruder wurde in einem nahe gelegenen Dorf aufgegriffen, nachdem er sämtliche Hühner jenes Dorfes, insgesamt 17, zusammengetrieben und ihnen hiernach den Kopf abgeschlagen hatte. Warum, dazu schweigt Paul. Doch er bittet Johann, ihn auf eine Reise zu begleiten. Erste Station: besagtes Dorf bei Celle – Altensalzkoth. Hier hatte sich Adolf Eichmann, der Mitorganisator der nationalsozialistischen Judenvernichtung zwischen 1946 und 1950 zunächst als Waldarbeiter, danach als Hühnerzüchter versteckt gehalten. Während die beiden vom Leben angeknacksten Brüder, die einander so viele Jahre verloren hatten, ihre persönliche von Schmerz und Gewalt geprägte Vergangenheit in der Gegenwart ihres gemeinsamen Roadtrips zu kitten versuchen, erschließt sich nach und nach immer deutlicher, warum Paul zum Hühnermörder geworden ist und was genau es ist, das sie stetig weiter entlang des 52. Breitengrads in Richtung niederländischer Nordseeküste reisen lässt.. Tatsächlich fragt man sich beim Lesen von „Johanns Bruder“, ob es wirklich notwendig ist, dieser wirklich gelungene Roadnovel zweier ungleicher Brüder und ihrer tragisch-schweren Familiengeschichte, die hier in sprachlich-erzählerisch herausragender Weise vorgetragen wird, noch einen zweiten inhaltsschweren Erzählfaden zum schweren Erbe des Nationalsozialismus zur Seite zu stellen. Aber zum Glück erweist sich diese parallele Reise in das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit nicht so starr und dominant, als dass sie die besondere Magie des brüderlichen Bandes, die diesen Roman so zum Strahlen bringt, verdecken würde. So wird uns ein würdiger Debüt-Nachfolgeroman präsentiert, der einen Lesetipp allemal wert ist.